Ein idyllisches Dorf irgendwo in der Region Hannover. Backsteinhöfe, knorrige Eichen, Schützenscheiben an Hausgiebeln. Es wäre der ideale Ort gewesen, um ihre beiden Kinder großzuziehen. Eine stimmige Kulisse für ein glückliches Familienleben. Doch es kam anders. „Für uns ist das immer noch nicht greifbar“, sagt Marie May (Name geändert). „Es wird noch lange dauern, bis wir verstehen, was da vor gut zwei Jahren passiert ist.“ Ihr Mann sitzt am Wohnzimmertisch neben ihr und nickt mit ernster Miene.
Jan May stammt selbst vom Dorf. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er als Fleischer, wie vor ihm schon sein Vater und sein Großvater. „Wir haben viel zu tun – gegessen wird immer“, sagt der kräftige Mann und lacht freundlich. Für einen Moment scheinen die Sorgen fern zu sein, die ihr Leben sonst überschatten.
Seit mehr als 20 Jahren sind die beiden ein Paar. Eine Jugendliebe, die gehalten hat. Zwei bodenständige, handfeste und herzliche Menschen, die schon viele Höhen und Tiefen gemeinsam durchgestanden haben.
Foto vom Grab an der Wand
Zum Beispiel, als sie sich damals beim Umbau eines Hauses übernommen hatten. Sie hatten sich bei den Kosten verschätzt, die Finanzierung passte nicht mehr. „Und dann war das Haus weg“, sagt der 48-Jährige nüchtern. Sie gingen in Privatinsolvenz. Heute sind sie schuldenfrei.
Und dann war da die Geburt ihrer Tochter. „Clarissa war ein Frühchen, sie wog nur 652 Gramm“, erzählt ihre Mutter. Heute ist ihre Tochter zwölf Jahre alt. „Sie hat überhaupt keine Schäden“, sagt Marie May, „das ist ein großes Geschenk.“ Aus ihrem Munde hat ein solcher Satz besonderes Gewicht.
Ihr Sohn kam dann 2017 zur Welt. Er ist auf vielen Bildern im Wohnzimmer zu sehen. An den Wänden der Mays hängen Dutzende Familienfotos, als sollten diese etwas beschwören, das es so nicht mehr gibt. Ihr Sohn auf einem Gartenstuhl; ein lässiger Wildfang. „Das Foto hatten wir dann auch bei der Trauerfeier in der Kirche“, sagt die Mutter. Ein anderes Bild zeigt den Jungen mit einem Schlauch in der Nase. „Da war er schon krank.“ Und eines zeigt seinen Grabstein. Ein englischer Spruch prangt zwischen den vielen Fotos an der Tapete: „Family – everything else can wait.“
„Er kam nicht mehr nach Hause“
Es fing damit an, dass ihr Sohn sich nicht wohlfühlte: „Er klagte über Schmerzen in den Beinen“, sagt Marie May. Sie gingen zu verschiedenen Ärzten, und schließlich bekamen sie die Diagnose. Leukämie. Sein vierter Geburtstag fiel in den ersten Chemo-Block. „Er hat die Behandlung nicht gut verkraftet“, sagt die Mutter.
Für die Familie begann ein zermürbendes Wechselbad aus Zuversicht und Enttäuschung. „Die Ärzte waren optimistisch, wir hatten Hoffnung“, sagt Marie May. Doch dann bekam ihr Sohn eines Tages einen heftigen Krampfanfall. Unter dramatischen Umständen kam er in die Klinik. Wenn die Eltern davon erzählen, wirken ihre Erinnerungen wie Schlaglichter, die kurz aufscheinen. Ihr Junge an Beatmungsmaschinen. Seine feuerrote Haut. Die Lungen voller Wasser. „Wir wissen nicht, ob er uns noch erkannt hat“, sagt der Vater.
Lange saßen sie an seinem Bett. Sie morgens, er abends. Irgendwann sagten die Ärzte, dass sie nicht wüssten, ob er überleben würde. „Und dann ist er nicht mehr nach Hause gekommen.“
Die Mays sind zupackende Leute, die auch über ihr Seelenleben eher sachlich sprechen. Besonders beschäftigt sie heute die Situation ihrer Tochter. „Clarissa hat damals einen Knacks bekommen“, sagt die Mutter. Die Zwölfjährige leidet seither unter massiver Trennungsangst. Sie hält es kaum aus, wenn ihre Eltern das Haus verlassen. Sie selbst geht kaum noch fort, um Freundinnen zu treffen. Sie schafft es nicht, alleine in die Schule zu gehen. „Sie ist wieder wie ein kleines Kind“, sagt ihr Vater ratlos.
Zusammenhalt im Leid
Meist gehen Marie May und ihre Tochter gemeinsam in die Schule, holen sich ein paar Aufgaben ab – und gehen dann wieder gemeinsam heim. Bald soll Clarissa eine Schulbegleitung bekommen. Vielleicht schafft sie es mit einer festen Bezugsperson, wieder stärker am Unterricht teilzunehmen. „Für uns ist es noch ein langer Weg“, sagt die Mutter, die selbst auf eine Reha wartet. Vielleicht bekommt sie diese im neuen Jahr, mal schauen.
Früher arbeitete sie als Verkäuferin. Auch wegen der familiären Situation kann die 44-Jährige derzeit nicht arbeiten; nur zweimal in der Woche geht sie putzen. Der Schicksalsschlag hat für die Familie somit auch finanzielle Folgen: „Wir beziehen kein Geld vom Amt“, betont Marie May. Das ist ihr wichtig. „Aber wir können eben keine großen Sprünge machen.“
Kürzlich brauchte ihre Tochter einen neuen Kleiderschrank. „Für so ein Möbelstück müssen wir schon sparen“, sagt sie. Viel kaufen die Mays über Ebay-Kleinanzeigen oder auf Flohmärkten. Geht ja auch.
Gerne würden die drei aber auch einmal etwas unternehmen, vielleicht in ein Musical nach Hamburg fahren. „König der Löwen“ oder „Eiskönigin“. Es wären kleine Fluchten aus einem Alltag, in dem Trauer, Verlust und Angst sehr mächtig sind. Ein Tag, an dem ihre Tochter etwas Abstand gewinnen könnte. Und ein gemeinsames Erlebnis für eine Familie, die im Leid fest zusammenhält.
Von Simon Benne