Es gibt einen Satz, mit dem sich Britta L. immer wieder Mut zuspricht. „Es wird schon weitergehen“, sagt sich die Mutter von zwei acht- und zwölfjährigen Kindern, wenn über ihr alles zusammenzubrechen scheint. Dass ihr Sohn Daniel und ihre Tochter Lisa seit Jahren mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen leben müssen, daran hat sich die 38-Jährige fast schon gewöhnt. In diesem Jahr aber kamen weitere Ereignisse hinzu, die die Familie auch finanziell an ihre Belastungsgrenze gebracht haben. Britta L.s sehnlichster Wunsch ist nun, ihre offenen Rechnungen bezahlen zu können und noch etwas Geld anzusparen – für einen Umzug an die Ostsee. Dorthin, wo es ihnen allen gesundheitlich besser gehen soll.
Der zwölfjährige Daniel und die achtjährige Lisa sind der ganze Stolz von Britta L. „Sie sind mein Ein uns Alles“, sagt die Mutter. Daniel war dreieinhalb Jahre alt, als er morgens mit einer Gesichtslähmung aufwachte. Aber es kam noch schlimmer. Er konnte auch nicht mehr sprechen und den Kopf nicht mehr halten. Im Kinderkrankenhaus Auf der Bult diagnostizierten die Ärzte eine Zerebralparese, eine frühkindliche Schädigung des Gehirns, höchstwahrscheinlich ausgelöst durch eine Windpockeninfektion im Gehirn des Jungen. Seitdem ist sein Sprachzentrum gestört. „Plötzlich konnte er die Bedeutung von Worten nicht mehr verstehen“, erzählt seine Mutter.
Es folgten jahrelange Ergo-, Logo- sowie Mototherapien und der Besuch eines Sprachheilkindergartens. Eingeschult wurde Daniel in einer Schule für Sprachbehinderte. Zwischenzeitlich hatte sich seine Störung so weit gebessert, dass er sogar in die 3. und 4. Klasse einer Regelschule gehen konnte. Seit einem Rückfall besucht er allerdings wieder die Förderschule. „Daniel vergisst einfach alles, aber anders als andere Kinder“, sagt seine Mutter. „Er vergisst, dass er auf dem Nachhauseweg von der Schule seine Schwester abholen soll, und wenn ich ihn bitte, er soll Milch einkaufen, bringt er Butter oder Jogurt mit.“
Acht Monate nach der folgenschweren Infektion ihres Sohnes kam Tochter Lisa zur Welt. Alles schien gut, doch dann verweigerte ihr Kind plötzlich die Nahrung. Auch seine Hautfarbe veränderte sich. Ärzte der Medizinischen Hochschule Hannover stellten bei dem sieben Wochen alten Mädchen einen beidseitigen Nierenstau fest, offenbar hervorgerufen durch eine bakterielle Infektion – mit der Folge, dass das Kind fast sechs Jahre lang alle drei Monate für ein bis zwei Wochen zurück in die Klinik musste, um auf
Medikamente eingestellt zu werden. Jetzt genügt es, wenn sich Lisa nur noch einmal jährlich zur Kontrolle ins Krankenhaus begibt. Zurückgeblieben ist eine Unverträglichkeit auf Milchzucker, weshalb sie laktosefrei ernährt werden muss.
Der nächste Schicksalsschlag für die alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV und dem Unterhalt für ihre Tochter lebt – knapp 1300 Euro im Monat –, kam im Februar. Ihre schwer an Parkinson und Lungenkrebs erkrankte Mutter, um die sie sich seit Jahren gekümmert hatte, starb. Britta L.s Vater lebt seit 2007 nicht mehr. Zu der Trauer um ihre Mutter kamen nun noch die Kosten für die Bestattung. Fast zeitgleich musste sie ihr altes Auto verschrotten lassen, das sie für die Fahrten ihrer Kinder zu Therapeuten, in die Schule und in Krankenhäuser dringend benötigt. Um sich Ersatz zu beschaffen, nahm sie zwei kleine Kredite auf. Ihre mühsam ersparten 500 Euro waren da längst aufgezehrt.
Im September schließlich mussten ihrem Sohn sechs Zähne gezogen werden, weil eine Fehlstellung drohte. Die Kosten für die Zahnspange, die Daniel jetzt tragen muss, übernimmt zwar zu 80 Prozent die Krankenkasse, aber Britta L. kann die 560 Euro, für die sie aufkommen muss, zurzeit nicht auf einmal aufbringen. „Ich kann nur in Raten zahlen – ganz kleine Summen zwischen 10 und 20 Euro im Monat“, sagt die 38-Jährige. Sie muss sehr sparsam wirtschaften. Nach Abzug aller Kosten wie Miete, Strom und Autoversicherung bleiben ihr und den Kindern monatlich noch 200, wenn es gut läuft, 250 Euro zum Leben.
All diese Umstände gehen nicht spurlos an Britta L. vorüber. Sie selbst leidet unter starken Schlafstörungen, liegt nachts stundenlang wach. „Ich kann nicht mehr abschalten, die Gedanken drehen sich auch nachts immer weiter“, sagt die gelernte Sozialassistentin, die früher einmal als Schul- und Sozialassistentin gearbeitet hat, bevor die Kinder kamen. Sie hat Neurodermitis, wie Daniel und Lisa auch, und wenn der Stress wieder einmal besonders stark an ihr nagt, dann beginnen die Ekzeme zu jucken.
Entlastung von ihrem alles andere als einfachen Alltag haben Britta L. und ihre Kinder bisher nur durch einige Mutter-Kind-Kuren an der Ostsee erhalten, die ihnen die Krankenkasse alle zwei bis drei Jahre gewährt. Dort verschwinden die Ekzeme und der durch die Neurodermitis verursachte Juckreiz. „Auch das Asthma meines Sohnes bessert sich“, erzählt Britta L. Das Schönste aber sei, dass ihr Sohn dort wie ausgewechselt ist. „An der See ist er den ganzen Tag fröhlich und freut sich über die Rufe der Möwen. Und wenn er ganz ruhig die Wellen am Strand beobachtet, hat er ein Lächeln im Gesicht.“
Auch deshalb haben ihr ein Arzt und eine Therapeutin während der jüngsten Kur im Oktober dringend dazu geraten, mit den Kindern an die Ostsee umzuziehen. Sogar ihre Fallmanagerin beim Jobcenter befürwortet den Umzug, damit sich die Gesundheit der Familie stabilisieren kann. Britta L. möchte gern nach Heiligenhafen, Grömitz oder Großenbrode ziehen, wo es zwar ländlich ist, sich aber eine kleine Stadt in der Nähe befindet. „Dort könnte ich in einer der Kurkliniken arbeiten, vielleicht sogar in meinem alten Beruf als Sozialassistentin.“
Von Veronika Thomas