Durch Corona verlor Thomas Sommer seinen Job in der Veranstaltungsbranche – und bald auch die Wohnung. Mit vier Kindern, darunter einem Neugeborenen, landete seine Familie in einer Flüchtlingsunterkunft. Jetzt stehen sie vor einem Neuanfang. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Von Simon Benne
Von der Decke baumelt eine nackte Glühbirne. Die Wände sind noch kahl. Statt einer Zimmertür gibt es am Eingang zum Wohnzimmer nur einen Vorhang, der notdürftig die kalte Luft fernhält. Auf der Erde liegt Spielzeug herum. Ein wenig chaotisch sieht es bei den Sommers noch aus. So, wie es bei einer Familie mit vielen Kindern eben aussieht, die noch halb im Umzug steckt und erst wenige Möbel hat.
Thomas Sommer (Namen geändert) atmet tief durch. „Wir haben ein Dach überm Kopf, die Heizung läuft, es ist trocken – was wollen wir mehr?“, sagt der Familienvater. Erst vor kurzem konnten sie das kleine Haus irgendwo in der Region Hannover beziehen. Für ihn und seine Familie ist es ein Neustart nach schwerer Zeit.
Auf der Fensterbank leuchtet ein grüner Plastiktannenbaum. Und auf dem ausziehbaren Sofa, wo der 39-Jährige, seine Frau und die jüngste Tochter nachts schlafen, mummeln sich an diesem dunklen Nachmittag die vier Kinder der Sommers in Bettdecken ein. Der Große ist 15 Jahre alt, die Kleinste gerade anderthalb. Sie hören zu, als der Vater vom Schicksal der Familie berichtet. Es ist eine Geschichte, die vom Kampf um ein Leben auf eigenen Beinen erzählt und davon, wie kurz der Weg aus der Mitte der Gesellschaft an den sozialen Rand sein kann.
Ein Leben voll Improvisation
„Ich hatte keine gute Kindheit“, sagt Thomas Sommer. Der massige Mann mit den tätowierten Oberarmen spricht mit kräftiger Stimme. Seinen von Brüchen geprägten Lebensweg schildert er sprunghaft, als würde er lauter Scherben wahllos zu einem Mosaik zusammenlegen.
Seine Mutter sei psychisch krank gewesen, der Vater ein prügelnder Alkoholiker, der ihn mehrfach ernsthaft verletzt habe. Er selbst kam in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und später in ein Heim. Den Hauptschulabschluss schaffte er trotzdem, er arbeitete im Getränkemarkt („Für 10 Mark die Stunde“) und hatte andere kleine Jobs. Eine technische Ausbildung brach er ab.
„Für anderthalb Jahre lebte ich auf der Straße“, sagt er. Dann nahmen die Eltern eines Freundes ihn auf. In dem Ort, in dem sie noch heute leben, lernte er auch seine Frau kennen. Sie war erst 17 und wurde früh schwanger. Kathrin Sommer arbeitete mal in einem Kiosk, mal als Ordnerin bei Sportveranstaltungen. Und beide waren bei einer Reinigungsfirma beschäftigt.
Die Sommers waren finanziell nie auf Rosen gebettet. „Wir haben es halt immer hingekriegt, uns irgendwie durchzuhangeln“, sagt der 39-Jährige. Ein Leben voller Improvisation, mit wechselnden Jobs und wenig Kontinuität.
Corona machte alles kaputt
Anfang 2020 schien es aufwärts zu gehen. Sie zogen in ein kleines Haus ein. Kathrin Sommer arbeitete als Assistentin in der Altenpflege, und ihr Mann hatte etwas in der Eventbranche gefunden, bei einer Firma, die Veranstaltungen organisiert. „Das war mein Traumjob“, sagt er, „alles, was ich bisher gelernt hatte, konnte ich dort einbringen, von der Technik bis zur Reinigung der Geräte.“
Dann kam Corona – und ihre gerade erst aufgebaute Existenz ging in die Brüche. Die Veranstaltungsbranche traf es besonders hart, Thomas Sommer war seine Stelle binnen weniger Wochen los. Die Bearbeitung des Antrags auf Arbeitslosengeld dauerte einige Zeit, sie konnten die Miete nicht mehr zahlen. „Der Vermieter dachte, wir wollten ihn nur verarschen und ließ sich auf kein Gespräch ein“, sagt der 39-Jährige.
Die Sozialarbeiterin, die Familie Sommer betreut, bestätigt dies: „Der Vermieter kündigte sofort und beantragte die Räumung“, sagt sie. Weil Kathrin Sommer mit der jüngsten Tochter schwanger war, durften sie noch im Haus bleiben, bis das Baby da war. Nach dem Ende des Mutterschutzes aber mussten sie raus.
Anfangs nahm Kathrin Sommers Mutter die Familie in ihrer Wohnung auf, doch dort konnten sie nicht auf Dauer bleiben. Und so landeten sie mitsamt dem Neugeborenen mitten im vergangenen Advent schließlich in einer Flüchtlingsunterkunft. Sechs Personen, 34 Quadratmeter mit Kochnische.
Kinder boten ihr Taschengeld an
„Vom 14. Dezember 2021 bis zum 30. November 2022 waren wir dort“, sagt Kathrin Sommer. Die Daten hat sie genau im Kopf, sie markieren für sie einen Lebensabschnitt. In der Unterkunft waren sie die einzige deutschsprachige Familie. „Unsere Nachbarn kamen aus Afghanistan, dem Iran oder der Ukraine“, sagt sie, „wir konnten ihnen helfen, wenn sie etwas nicht verstanden, und unsere Kinder brachten ihren Kindern Deutsch bei.“
Verzweifelt suchten sie nach einer neuen Bleibe. „Immer wieder wurden wir enttäuscht“, sagt Thomas Sommer. Schließlich fanden sie einen Vermieter, der ihnen eine Chance gab. Vor wenigen Wochen konnten sie in ihr kleines Reihenhaus einziehen. Und Thomas Sommer hat einen neuen Job: „Ich bin jetzt bei einer Firma, die Gebäudereinigung und Grünpflege macht“, sagt er zufrieden.
Finanziell ist es noch immer eng: „Wir stehen mitten im Leben, ich arbeite in Vollzeit – und trotzdem reicht es gerade so“, sagt der Familienvater. Er bringt weniger als 1700 Euro im Monat nach Hause. „Mein Geld geht aber praktisch komplett für Miete und Nebenkosten drauf“, rechnet er vor. Zum Leben bleibt der großen Familie das Arbeitslosengeld seiner Frau, 392 Euro, und das Kindergeld.
„Wir müssen bei Einkäufen ganz genau gucken, wo was im Angebot ist – die Kinder futtern einem ja die Haare vom Kopf“, sagt die Mutter lachend. Vom Tisch aus wirft sie eine gepellte Mandarine Richtung Schlafsofa, zu den Kindern hinüber. Auf ihren Nachwuchs sind die Eltern sehr stolz: „Als es uns richtig schlecht ging, haben sie uns sogar ihr Taschengeld angeboten“, sagt Thomas Sommer und nickt mit zusammengekniffenem Mund. „Wir halten als Familie zusammen.“
Zu allem Überfluss hatte ein Wasserschaden einen großen Teil ihrer Habe vernichtet, ehe sie ins Flüchtlingsheim ziehen mussten. Familie Sommer fängt darum jetzt ganz von vorn an. „Die Möbel, die wir schon haben, sind Geschenke von Freunden“, sagt der Vater, „das Schlafsofa haben wir von meinem Chef bekommen.“ Sie brauchen noch viel: eine Kücheneinrichtung, richtige Betten für die Kinder, Elektrogeräte. „Und die Kinder sollen in diesem Jahr einen richtigen Weihnachtsbaum bekommen“, sagt die Mutter, „den haben sie im letzten Jahr am meisten vermisst.“