Lore Kabel zog ihre kranke Tochter alleine groß, arbeitete hart in schlecht bezahlten Jobs. Jetzt ist die Frau aus Linden 82 Jahre alt – und hat nicht genug Geld, um einen neuen Staubsauger zu kaufen. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Gerade ist die Frau vom Pflegedienst gegangen. Die alte Dame hat noch etwas Zeit, ehe sie selbst zum Arzt muss. Sie setzt sich auf das Sofa, auf dem sie auch schläft. „Ich soll viel trinken, wegen der Tabletten“, sagt Lore Kabel (Name geändert) und nippt am Wasser, in das sie einen Schuss Cola gegeben hat. „Wegen dem Geschmack“, wie sie im Plauderton sagt. Lore Kabel erzählt gerne und viel; sie wird schnell mit Leuten warm. Man merkt der freundlichen, schlanken Frau mit den kurzen, grauen Haaren nicht an, dass sie schon 82 Jahre alt ist.
Ihre kleine Wohnung ist bescheiden, aber geschmackvoll eingerichtet. In den Regalen steht eine ganze Armee von Figürchen und Vasen. Auf dem Tisch brennt eine Kerze. Daneben liegen Pillen, ihr Medikationsplan und eine Karte vom Menü-Bringdienst. Ein Stillleben aus dem Alltag einer typischen deutschen Rentnerin.
Lore Kabel lebt in Linden, doch ihre Sprache kämpft noch immer gegen die Anfechtungen Hamburgs. Dort wurde sie 1940 geboren, dort wuchs sie als Arbeitertochter mit fünf Geschwistern auf. „Arme-Leute-Kinder, aber anständig erzogen“, sagt sie. Wenn sie „anssdändich“ sagt, klingt sie wie eines der sympathischen St.-Pauli-Originale, die in TV-Serien wie dem „Großstadtrevier“ für hanseatische Gemütlichkeit sorgen. Sie ist ganz der Typ patente Deern mit Herz aus Gold.
„Ich habe nie viel verdient“
Als Kind überlebte sie die Bombennächte, sie wuchs in Trümmern auf. Als die Sturmflut 1962 kam, war sie selbst schon Mutter einer kleinen Tochter, die sie ohne Vater großzog. „Sie lag bei der Flut gerade im Krankenhaus, ich konnte nicht zu ihr“, sagt Lore Kabel – und dann kommen ihr die Tränen. Ihre Tochter wurde mit einer Gehbehinderung groß. Sie lag oft im Krankenhaus, die Beine waren eingegipst oder mit Schienen versehen. „Sie hat viel Schlimmes mitgemacht“, sagt die 82-Jährige.
Als die Wohnungsnot groß war, lebten sie zeitweise in einer Nissenhütte, aber Lore Kabel schaffte es trotz aller Widrigkeiten immer wieder, Arbeiten zu gehen, wenn ihre Eltern auf die Kleine aufpassen konnten. Nach der Volksschule fing sie eine Ausbildung zur Fußpflegerin in Wilhelmsburg an. Sie brach diese jedoch ab, weil sie schnell Geld ins Haus bringen musste. „Ich wurde Montagistin“, sagt sie, „da habe ich geholfen, Röhren für Fernsehgeräte herzustellen.“
Nebenbei ging sie noch kellnern.
„Viel verdient habe ich nie“, sagt sie. Sie verkaufte auch Giros und Bier, und zuletzt hatte sie einen Job in einer Spielhalle, ehe sie 2006 in Rente ging. „Ich war immer ein flexibler Mensch, im Denken, in allem“, sagt sie. Heute bezieht sie eine Rente von 756,89 Euro. Zusätzlich muss sie Grundsicherung bekommen. „Die Rente reicht zum Leben nicht“, sagt Lore Kabel. Sie sagt es hanseatisch sachlich, ohne jede Wehleidigkeit.Altersarmut ist weiblich
Immer mehr Menschen in Deutschland leben in Altersarmut. Im Juni 2022 bezogen 628.570 Personen im Rentenalter Grundsicherung, Tendenz steigend. Und weil Frauen häufiger als Männer wenig Rente bekommen, ist Altersarmut häufig weiblich.
Lore Kabel hat keinen Hang zum Jammern. Man muss schon nachhaken, bis sie erzählt, dass sie sich ihre Kleidung im Sozialkaufhaus holt und dass ihre Möbel meist Geschenke von Verwandten und Bekannten sind. „Kürzlich beim Einkaufen habe ich mich erschrocken“, sagt sie. Der Käse, den es sonst immer für 1,99 Euro gab, kostete plötzlich mehr als 3 Euro. „Ich dachte erst, die Verkäuferin hätte sich vertan“, sagt sie – um dann scheinbar gelassen mit den Achseln zu zucken: „Man kriegt eben nicht immer, was man möchte.“
Lore Kabel ist es wichtig zu zeigen, dass sie mit ihrem Leben im Großen und Ganzen zufrieden ist. Stolz zeigt sie auf die farbenfrohen Bilder an den Wänden, die sie selbst gemalt hat. Und auf die kunstvollen Blumengestecke, die sie selbst aus Draht und Kunststoff bastelt. Vor allem ist sie zufrieden mit ihrem Viertel. Als ihre Tochter vor Jahren im Annastift behandelt wurde, kam sie aus Hamburg zu Besuch nach Hannover – und verliebte sich in Linden. „Ich wollte immer hier leben“, sagt sie. Als Rentnerin machte sie ihren Traum dann wahr.
Sie liebt die Limmerstraße
Von der Limmerstraße kann sie lange schwärmen. „Das is maaaiine Limmer Street“, sagt sie in breitem Hamburgisch. „Da ist Leben, da ist immer was los.“ Nachts kann sie oft nicht schlafen. „Dann geistere ich da spät noch rum und unterhalte mich mit jedem“, sagt sie.
Unter Einsamkeit leidet sie nicht. Ihre Fähigkeit, auf andere zuzugehen, kam ihr auch bei ihrem ehrenamtlichen Engagement zu Gute: Neun Jahre lang hat sie Obdachlose in einem Tagestreff betreut. „Ich habe für sie genäht, gewaschen und am Tresen Kaffee ausgegeben“, sagt sie. „Vor allem aber hab ich mit den Leuten geschnackt“, fügt sie hinzu, „das waren welche, die noch viel ärmer waren als ich.“
Inzwischen machen ihr Schmerzen zu schaffen. „Ich bin eine gute Schauspielerin und lasse mir nix anmerken“, sagt sie. Doch die Knie tun weh, eine Operation habe wenig gebracht, und auch die Lendenwirbel bereiten ihr Probleme. „Ich habe auch schon Tumore am Rücken rausgenommen gekriegt“, erzählt sie.
Zu allem Überfluss sei jetzt noch die Miete erhöht worden. Dabei wären einige Anschaffungen dringend nötig. „Ich könnte einen neuen Staubsauger brauchen“, sagt sie. Der alte ist kaputt, sie hat ihn mit Klebeband notdürftig geflickt, und sie will kein anderes Modell, mit dem sie nicht zurechtkommt. Und sie müsste einen Wäscheständer anschaffen. „Momentan trockene ich die Socken auf der Heizung“, sagt sie. Für manche Investitionen reicht ihre Rente eben nicht. Ach ja, und einen Wintermantel, den könnte sie auch noch gebrauchen. Es sind bescheidene Wünsche einer bescheidenen Frau.
Von Simon Benne