Mit seiner kleinen Rente kommt Eberhard Reimann kaum über die Runden. Trotzdem engagiert sich der 78-Jährige ehrenamtlich für andere Senioren. Jetzt wurde er bestohlen – das Verbrechen trifft ihn sehr. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe. Von Simon Benne.
Man sieht ihm sein Alter nicht an. Eberhard Reimann ist 78 Jahre alt, doch der Mann mit den akkurat frisierten Haaren wirkt deutlich jünger. „Die Aktivität hält mich fit“, sagt er lächelnd. Dann entschuldigt er sich, weil er keine Zähne mehr hat und etwas nuschelt. Das hängt mit dem Verbrechen zusammen, dem er zum Opfer gefallen ist.
Auf diese Tat wird er in den kommenden zwei Stunden immer wieder zu sprechen kommen. Sie hat ihn tief getroffen; es ist, als ob eine Art Grundvertrauen in ihm erschüttert worden wäre. Ganz abgesehen vom finanziellen Verlust stellt dieses Erlebnis seine Gabe, immer aus allem das Beste zu machen, auf eine harte Probe.
Eberhard Reimann wuchs im Harz auf, machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und besuchte eine Textilfachschule. „Es hat mich immer hinausgezogen in die Welt“, sagt der 78-Jährige, der noch heute unternehmungslustig und agil wirkt. Zwei Jahre lang arbeitete er in Südafrika, danach war er rund 30 Jahre lang als Verkäufer in Hannover tätig, in verschiedenen angesehenen Fachgeschäften. „Ich wurde immer wieder abgeworben“, sagt er stolz.
Mit der Rente kam der Absturz
Weil er gerne mehr verdienen wollte, sattelte er trotzdem noch einmal um und wagte im Finanzdienstsektor den Schritt in die Selbständigkeit. „Ich erklärte Leuten, wie private Altersvorsorge funktioniert“ sagt er. Das ausgerechnet bei ihm die Rente einmal zum Problem werden sollte, ist eine Ironie des Schicksals.
„Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht“, betont er. Und doch stand er nach einigen aufreibenden Jahren irgendwann mit einem Burn-Out da. „Die Energie war weg, die Leistungsfähigkeit auch – und mein Arzt diagnostizierte eine ,depressive Erschöpfung’“, sagt er. Mitte fünfzig war er damals.
„Es ist schlimm, wenn man nicht arbeiten kann, weil man depressiv ist, und depressiv wird, weil einem die Arbeit fehlt“, sagt er, „ein Teufelskreis.“ Immer wieder versuchte er, beruflich wieder Fuß zu fassen – vergeblich. „Dabei habe ich alles getan, um wieder auf die Beine zu kommen“, sagt er, „ich bin ja eine Kämpfernatur.“ Mit 65 Jahren war dann Schluss. Reimann ging in Rente. „Und damit kam der Absturz“, sagt er.
Zu den Besserverdienern hatte er nie gehört und folglich auch keine großen Rentenansprüche erworben. Der Verdienstausfall durch den Burn-out machte sich zusätzlich bemerkbar. „Ich wurde ein Fall für die Grundsicherung“, sagt er.
„Keine großen Sprünge machen“
Die kleine Wohnung, in der er seine Geschichte erzählt, ist bescheiden, aber geschmackvoll eingerichtet – mit Tannenbaum und Weihnachtsschmuck. Orangefarbene Gardinen tauchen das Wohnzimmer in ein warmes Licht. Doch der Teppich ist verschlissen, die Tapeten sind vergilbt, und die Küchenmöbel sind reif für den Sperrmüll. Eberhard Reimann lebt derzeit von 960 Euro Rente, statt der Grundsicherung bekommt er inzwischen etwas Wohngeld. „Große Sprünge kann ich nicht machen“, sagt er.
Der Rentner hat den festen Willen, seinen Alltag nicht von der Armut prägen zu lassen, sondern selbst der Gestalter seines Lebens zu sein. Nur, wenn man gezielt nachfragt, erzählt er davon, dass er sich niemals einen Urlaub leisten kann, ebenso wenig wie ein Auto, und dass die Wohnung dringend renoviert werden müsste. „Man muss sich eben einschränken“, sagt er eisern. Jammern liegt ihm nicht. „Ich bin eben ein sparsamer Mensch.“
Lieber spricht er über die Ehrenämter, die sein Leben reich machen: Für eine evangelische Einrichtung besucht er Senioren, die einsam sind. Und für den Kommunalen Seniorenservice leitet er seit Jahren mehrmals in der Woche Gesprächskreise für ältere Menschen. Wenn Corona es zulässt. „Zeitweise bin ich im Homeoffice“, sagt er und lächelt schelmisch, „dann telefoniere ich mit den Leuten eben.“
Er engagiert sich für andere Senioren
Man glaubt sofort, dass der eloquente Mann mit dem soliden Allgemeinwissen eine Gesprächsrunde gekonnt moderieren kann. Er ist ein guter Unterhalter. „Wir sprechen dann über das alltägliche Leben, über Kultur oder Politik“, sagt er. Dafür bekommt er eine kleine Aufwandsentschädigung, wie ehrenamtliche Sporttrainer auch. „Herr Reimann ist ungemein engagiert und zuverlässig“, sagt eine Sozialarbeiterin, die ihn seit Jahren kennt.
Daneben kümmert er sich liebevoll um seine Lebensgefährtin, die an Demenz erkrankt ist und in einem Pflegeheim lebt. Während des letzten langen Lockdowns habe sie sehr abgebaut, berichtet er: „Ihre Sprache, die Orientierung sind verloren gegangen. Sie erkennt mich inzwischen nicht mehr“, sagt er, „aber wenn kein Besuchsverbot herrscht, ich bin jeden Tag bei ihr.“
Dann kommt er wieder auf das zu sprechen, was ihn umtreibt. Vor drei Monaten, er war auf dem Weg zu einer seiner Seniorengruppen, wurde er Opfer eines dreisten Diebstahls. An dem Tag trug er seinen Rucksack mit einem Riemen lässig über der rechten Schulter. „Es muss passiert sein, als ich aus dem Bus stieg“, vermutet er. „Auf der Straße bemerkte ich, dass der Rucksack weg war – wahrscheinlich abgeschnitten.“ Er kontaktierte das Verkehrsunternehmen, ging zur Polizei – ohne Ergebnis.
Hörgeräte und Zahnersatz gestohlen
Bargeld, Handy und Hörgeräte waren ebenso verschwunden wie sein Zahnersatz: „Der drückte etwas, darum nahm ich ihn nur zum Sprechen und zum Essen rein“, sagt er. Erst Tage später wurden ein paar Dokumente aus dem Rucksack im Bürgerbüro einer Kommune abgegeben, die auf dem Weg der Buslinie liegt.
Ohne seine künstlichen Zähne spricht er etwas undeutlich. „Nur gut, dass ich gerne Suppen esse“, scherzt er mit bitterem Galgenhumor. Man spürt, wie ihn dieser Verlust getroffen hat. „Ich war danach total konfus – das war sehr, sehr schlimm für mich“, sagt er ernst.
Fragt man ihn, was er sich wünscht, fällt ihm nicht als erstes die dringend nötige Renovierung der Wohnung ein. „Ich bräuchte wieder ein vernünftiges Handy“, sagt er, „auch für meine Seniorengespräche.“ Derzeit benutzt er ein altes Mobiltelefon, das er noch in einer Schublade hatte. „Aber das geht dauernd von alleine aus“, sagt er. Eberhard Reimann denkt nicht zuerst an sich selbst, sondern an seinen Einsatz für andere. Vielleicht ist es das, was ihn so beweglich gehalten hat. Und was ihn den Diebstahl jetzt als doppelt ungerecht empfinden lässt.