Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe: Die Familie der schwer kranken Maryam kämpft sich durch.
Vielleicht kann sie es ja doch. Es wäre ja möglich. Sicher, seit fast zwei Jahren liegt Maryam im Krankenhaus, und so lange schon ist sie angewiesen auf die Maschine, die durch einen Schlauch die Luft in ihre Lungen drückt. Aber sie darf das Atmen nicht verlernen. Deshalb machen ihre Eltern mit ihr immer wieder diesen Versuch. Er verläuft stets gleich. Die Eltern klemmen den Schlauch von der Kanüle an der Luftröhre ab. Dann soll Maryam allein Luft holen. „Acht, neun Minuten“, sagt ihr Vater, Reza B., „das hat sie schon häufiger geschafft.“ Aber vor ein paar Wochen hat sie einen neuen Rekord aufgestellt: 23 Minuten. 23 Minuten, bis sie erschöpft lächelte und mit der Hand signalisierte, dass sie wieder an die Maschine angeschlossen werden möchte. „Wir waren so stolz“, sagt Reza B. 23 Minuten, das war ein Zeichen, dass etwas besser wird. Dass es Hoffnung gibt.
Zwei Jahre also, so lange ist es her, dass sie sich über das Atmen keine Gedanken gemacht hat. Es war für sie so selbstverständlich wie stehen und gehen. Maryam ging aufs Gymnasium, achte Klasse, sie spielte Theater und Schlagzeug und traf sich mit Freunden, am liebsten in der Pizzeria ihres Vaters. „Nicht hinter den Tresen gehen“, sagte er ihnen streng, aber natürlich gingen sie doch hinter den Tresen und holten sich Cola, und natürlich buk ihnen der Vater dennoch kostenlos Pizza.
Ihr Leben unterschied sich nicht von dem ihrer Freundinnen, bis auf diese Kopfschmerzen. Wann genau sie einsetzten, sagt ihr Vater, wisse er nicht mehr genau. Zuletzt jedenfalls musste sie beim Sport aussetzen, und es gab Phasen, in denen sie sich auf nichts mehr konzentrieren konnte. „Wir liefen von Arzt zu Arzt“, sagt der Vater. „Die meisten konnten nicht helfen.“ Arnold-Chiari-Syndrom, so lautet die Diagnose, eine extrem seltene Fehlbildung am Gehirn. Wann man operieren sollte, ob man operieren sollte, dazu hörten Maryams Eltern sehr unterschiedliche Meinungen. Zu Beginn des Jahres 2012 entschließen sich Maryam, ihre Eltern und die Ärzte zur Operation. Sie soll in den Ferien stattfinden. Nach Ostern geht Maryam wieder in die Schule – das ist der Plan. Doch die Realität folgt nicht dem Plan. Es gibt Komplikationen. Maryam muss wiederbelebt werden. Nach Ostern, als sie eigentlich wieder zur Schule soll, ist Maryam gelähmt. Allein atmen kann sie nicht mehr. Sie ist auf die Maschine angewiesen.
Für Maryam beginnt eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser. Einige Tage nach der Operation wird sie nach Hamburg verlegt, in eine andere neurochirurgische Klinik. Von dort kommt sie in die Kinderklinik nach Altona. Nach fast einem Jahr wird sie in eine Rehaklinik nach Brandenburg verlegt – wo sie bis heute liegt.
Es gibt einige wenige Dinge, die sind für die Familie gleich geblieben. Äußerlichkeiten. Zum Beispiel Maryams Ecke im Kinderzimmer, das sie sich mit ihrer jüngeren Schwester Lale teilt. Das Schlagzeug steht dort. Über dem Schreibtisch hängen Fotos von Maryam. Sie ist dunkelhaarig, auffallend hübsch. Manchmal trägt sie eine Blume im Haar. Meistens lächelt sie. Fast alles andere hat sich für die Familie verändert. „Wir lassen sie nicht allein“, sagt Reza B. Das habe von Anfang an festgestanden. Also stellten die Eltern ihr Leben um. Eine Woche ist der Vater bei der Tochter, eine Woche die Mutter. Am Wochenende wechseln sie sich ab. Sehen sie sich ein paar Stunden, fährt der andere wieder zurück. „Viel Zeit hatten wir nicht zusammen, in den letzten zwei Jahren“, sagt Reza B. über seine Frau und sich.
Dass sie ihr kleines Restaurant so nicht würden weiterbetreiben können, war rasch klar. Reza B. stammt aus dem Iran. Dort war er Kameramann. Er floh nach der Revolution, seit mehr als 20 Jahren lebt er in Deutschland. Die Pizzeria, die er sich aufgebaut hat, war sein Stolz, erzählt er. „Ich war glücklich, wenn meine Kunden zufrieden waren.“
Einen Monat nach Maryams Operation hat er die Pizzeria verkauft. Das Geld reichte für ein Jahr. „Ich dachte, mein Kind wird wieder gesund und ich kann wieder arbeiten. Aber so ist es nicht geworden“, sagt Reza B. Noch so ein gescheiterter Plan.
Ein Jahr nach der Operation muss Reza B. Hartz IV beantragen. Sie würden mit dem Geld hinkommen. Wenn nur die vielen Fahrten nicht wären. Sie sprengen ihre Kasse. Und sicher ginge alles besser, wenn sie für Maryam Hilfe bekämen. Aber sie wohnt nicht bei ihnen im Haushalt, also gibt es keine Hilfe. „Dabei braucht sie doch Kleidung, Pflegemittel“, sagt Reza B. Ein Argument, das für das Gesetz nicht zählt. Es gibt eine Lücke, durch die die Familie einfach durchfällt.
Wie es weitergeht? Zwei Hoffnungen haben die B.s, eine fernere und eine nähere. Die fernere ist, dass Maryam weitere Rekorde schafft, dass die Familie sie, mit Hilfe, zu Hause pflegen kann. Die nähere ist, dass sie Weihnachten nach Hause kommen kann. Zum ersten Mal seit der Operation. Reza B. überlegt, wie er alles in sein Auto bekommt, den Rollstuhl, das Beatmungsgerät. Er weiß: Eigentlich geht es nicht. „Aber irgendeinen Weg“, sagt er mit einer Spur von Trotz, „muss es doch geben.“