Einst lebte Familie Nour glücklich im Libanon – dann zerstörte Multiple Sklerose ihre Existenz. Heute ringt die tapfere Mutter um eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Ihr Lebensweg schien vorgezeichnet zu sein. Schließlich waren sie glücklich in dem libanesischen Dorf, in dem sie wohnten. Fatima Nour arbeitete als Lehrerin, ihr Mann Ahmad (Namen geändert) betrieb einen kleinen Laden, halb Kiosk, halb Lebensmittelgeschäft. Bald nach ihrer Hochzeit wurden die beiden Kinder geboren, von denen niemand ahnte, dass sie einmal in Deutschland zur Schule gehen würden.
Fatima Nours Augen strahlen, wenn sie von ihrem alten Leben erzählt. Dann verfinstert sich der Blick der 43-Jährigen. „Die Krankheit hat alles verändert“, sagt sie. Familienleben und Beruf, Wohlstand und Heimat – die tückische Erkrankung ihres Mannes hat ihnen vieles genommen, was ihnen einst selbstverständlich erschien.
Es begann mit Kopfschmerzen
Im Jahr 2012 begann Ahmad Nour über Kopfschmerzen zu klagen. Er schlief schlecht, manchmal tat er tagelang kein Auge zu. Dazu kamen Schmerzen in Armen und Beinen. Die Ärzte fanden die Ursache lange nicht. Es vergingen Jahre, bis ein Spezialist bei ihm Multiple Sklerose (MS) diagnostizierte – eine Nervenkrankheit, die sich auf sehr vielfältige Weise äußern kann.
„Im Libanon bekam er Spritzen und Tabletten“, sagt seine Frau. Doch er wurde immer hinfälliger. Schmerzen und Medikamente zermürbten den einst agilen Mann. Irgendwann konnte er nicht mehr im Laden stehen, und seine Frau musste dort einspringen.
Fatima Nour sitzt auf dem Sofa, während sie von alledem erzählt. Ihre winzige Wohnung irgendwo in der Region Hannover ist kärglich eingerichtet. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Mandarinen. Alles ist penibel aufgeräumt und blitzsauber, als wollte die starke und selbstbewusste Frau sich selbst und anderen beweisen, dass sie durchaus die Dinge im Griff hat, die man im Griff haben kann.
Ein von Krankheit gezeichneter Mann
Ihr Mann sitzt neben ihr, und wenn er einmal aufstehen muss, stützt sie ihn am Arm. Während sie von ihrem Alltag spricht, von Kindern, Geldsorgen und Therapien, sitzt er apathisch daneben. Er ist erst 40 Jahre alt, wirkt aber deutlich älter. Ein von Krankheit gezeichneter Mann, der kaum noch reagieren kann.
Vor gut drei Jahren verließen sie ihre Heimat und gingen nach Deutschland, ihre Aufenthaltserlaubnis ist derzeit bis Sommer 2021 befristet. „Wir sind hierher gekommen, weil seine Krankheit sich hier besser behandeln lässt“, sagt Fatima Nour.
Die Libanesin ist eine beherzte, zupackende Frau. Rasch lernte sie die nötigsten Brocken Deutsch, über einen Kurs bei der Volkshochschule, über Youtube-Videos und über das Fernsehen. Zu ihrem Wortschatz gehören mittlerweile Wendungen wie „Taubheitsgefühl in den Gliedern“ – denn die Krankheit dominiert ihren Alltag auch hier.
Sorgen um die Zukunft der Kinder
Tatsächlich stünden ihrem Mann in Deutschland weit bessere Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung als im Libanon, sagt die 43-Jährige. Ahmad Nour muss viele Tabletten nehmen. Schmerzmittel, Schlafmittel und auch etwas gegen die Angst. „Er macht sich immer Sorgen um die Zukunft der Kinder“, sagt seine Frau. Inzwischen hat ihr Mann auch viel von seinem Sehvermögen eingebüßt.
„Frau Nour pflegt ihren Mann rund um die Uhr“, sagt die Sozialarbeiterin, die die Familie betreut, „sein Zustand verschlechtert sich jedoch rapide.“ Fatima Nour begleitet ihren Mann zu Ärzten und in Kliniken, sie hilft ihm beim Duschen oder wenn er ein paar Schritte gehen will. „Spazieren hilft ihm“, sagt sie liebevoll. Dass ihre Wohnung im dritten Stock ist, macht ihr Sorgen.
„Mit den Treppen wird es immer schwieriger.“
Zieht man die Miete ab, bleiben der vierköpfigen Familie von dem Geld, das sie vom Jobcenter bekommt, noch 1355 Euro zum Leben. „Die Krankheit des Vaters ist dabei eine besondere finanzielle Belastung“, sagt die Sozialarbeiterin, „die Kinder kommen in dieser Situation immer etwas zu kurz.“
„Deutschland ist ein menschliches Land“
Fragt man Fatima Nour, was sie sich wünscht, muss sie nicht lange überlegen. „Einen Trockner“, sagt sie, „weil wir in unserer Wohnung im Winter keine Wäsche aufhängen können.“ Außerdem würde sie den Kindern gerne Tablets schenken. „Nicht zum Spielen, sondern damit sie in der Schule mitmachen können, wenn es Digitalunterricht gibt“, sagt sie. Bildung, gut in der Schule zu sein, das sei wichtig, sagt die ehemalige Lehrerin.
Wenn Sie von den Kindern erzählt, die untereinander inzwischen Deutsch statt Arabisch sprechen und die es doch einmal zu etwas bringen sollen, dann leuchten ihre Augen wieder. Der Gedanke an eine bessere Zukunft macht ihr ebenso Mut wie die Erinnerung an die besseren Tage in der Vergangenheit.
Dass die Kinder es einmal besser haben werden, ist ein Gedanke, von dem auch Ahmad Nour zehrt. Mit leiser Stimme meldet er sich in dem langen Gespräch ein einziges Mal zu Wort. „Deutschland ist ein menschliches Land“, sagt er. Das Sprechen strengt ihn sichtlich an, aber man spürt, wie wichtig es ihm ist, seine Dankbarkeit zu artikulieren: „Hier kümmert man sich um die Kranken“, sagt er und ringt dabei mit den Tränen.
Von Simon Benne