Das polnische Mädchen war gerade 15 Jahre alt, als die Nazis sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten. Heute ist Irina Lesniewska 94 – und lebt einsam in bitterer Armut. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Sie hatte schon vorher Deutsche gekannt. „Auf der Straße hatte ich mit den deutschen Nachbarskindern gespielt“, sagt Irina Lesniewska (Name geändert). Die 94 Jahre alte Dame stammt aus einer Welt, die es nicht mehr gibt. Sie wuchs im multikulturellen Lodz auf. Wenn sie erzählt, wie sie als kleines polnisches Mädchen beim Seilspringen und bei Abzählreimen Deutsch lernte, ist das, als würde jemand in einem Album mit vergilbten Fotografien blättern.
Als 1939 der Krieg begann, ging sie noch zur Schule. „Und im September kamen dann die anderen Deutschen“, sagt sie. Die Besatzer sperrten Menschen in Lager. Ihren Vater verschleppten sie zur Zwangsarbeit nach Hannover, sie selbst wurde in einer Fabrik interniert. „Wir konnten uns nicht waschen, das Essen war schlecht. Ich wurde ganz mager und bekam Fieber.“ Nach drei Monaten setzte man sie in einen Zug, der nach Deutschland fuhr, ins pommersche Kolberg, das heute zu Polen gehört. „Ich war noch ein Kind“, sagt sie. Irina Lesniewska war 15 Jahre alt, als sie 1941 Zwangsarbeiterin wurde.
Verschleppt nach Pommern
Elegant frisiert sitzt die zierliche alte Dame auf ihrem Sofa, als sie ihre Geschichte erzählt. Eine zerbrechliche Frau, und dennoch eine stolze, würdevolle Erscheinung. Auf dem Schoß hat sie ein Buch, das Historiker über Zwangsarbeit geschrieben haben. Darin ist auch ein Foto, das sie als Jugendliche zeigt, mit dem aufgenähten „P“ auf der Kleidung, das die verschleppten Polen damals tragen mussten.
Am Arbeitsamt in Pommern warteten schon viele Deutsche, um sich Zwangsarbeiter auszusuchen. „Mich wollte kein Mensch haben“, sagt Irina Lesniewska. Ein Mann sagte: „Ich habe schon eigene Kinder, was soll ich da mit einem polnischen Kind, das noch dazu krank ist.“ Drei Tage lang saß sie auf dem Arbeitsamt auf einem Klappstuhl. „Ich hoffte schon, dass sie mich zurück zu Mama schicken würden“, sagt sie. Aber dann kam doch noch jemand, der sie wollte.
Ein altes Ehepaar, das selbst keine Kinder hatte, nahm sie mit. Sie arbeitete als Serviererin in ihrer Pension im Seebad Horst. „Das große Haus steht heute noch“, sagt sie. Die junge Irina hatte Glück: „Sie haben mich behandelt, als würde ich zur Familie gehören.“ Nie sagten die alten Leute „Heil Hitler!“, und abends hörten sie heimlich englischen Rundfunk. So etwas war nicht die Regel. In der Nachbarschaft gab es polnische Jungen, die im Winter nur dünne Kleidung hatten und im Stall schlafen mussten. Polen galten den Nazis als minderwertige Rasse, Zwangsarbeiter wurden entrechtet und geschlagen, viele starben.
„Ich wollte sterben oder zu Mama“
Irina Lesniewska quälte vor allem das Heimweh. Als sie es nicht mehr aushielt, sprang sie aus einem Fenster, doch sie kam wieder zu sich. Als ihre Chefin besorgt fragte, warum sie das getan habe, sagte sie: „Ich wollte sterben oder zu Mama.“ Später wurde sie in das Bahnhofshotel im nahen Treptow versetzt, wo sie für deutsche Soldaten kellnern und sich verächtliche Sprüche über Polen anhören musste. „Immerhin war ich selbst hellblond und hatte große blaue Augen, ganz wie Hitler sich die nordische Rasse vorstellte – ich war den Leuten sympathisch.“
Am Ende des Krieges flohen die Deutschen aus Pommern in den Westen. Sie selbst schlug sich nach Lodz durch. Dort erlebte sie mit, wie die deutschen Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt wurden. Auch davon hat sie den Historikern erzählt. „Die sollen die Wahrheit schreiben, ohne die Propaganda von Kommunisten und Nazis“, sagt sie.
Nach dem Krieg verschlug es Irina Lesniewska ins polnisch gewordene Schlesien. „Alles in meinem Leben war irgendwie deutsch-polnisch“, sagt sie. Im Riesengebirge arbeitete sie als Bergführerin für Touristen, die bald auch aus Deutschland kamen. Einer von ihnen, ein ehemaliger Soldat, selbst traumatisiert durch den Krieg, sah sie und sagte: „Dich hat der liebe Gott geschickt.“ Sie heirateten, und Irina Lesniewska ging ein zweites Mal nach Deutschland. Diesmal freiwillig.
Meist ist sie heute alleine
Die alte Dame lächelt, wenn sie von früher spricht. Sie genießt es, zu erzählen. „Wenn ich alleine bin, ist es hier so so still wie im Grab“, sagt sie. Seit ihr Mann 2008 starb, ist sie meist alleine in ihrem kleinen Appartement in einem großen Wohnblock irgendwo in der Region Hannover. Der Pflegedienst, der täglich kommt, ist eine Abwechselung. Sie bekommt nur eine winzige Rente, etwas Witwenrente und zusätzlich Grundsicherung. Die Sozialarbeiterin, die sie betreut, rechnet vor, dass Irina Lesniewska mit wenigen Hundert Euro im Monat auskommen muss.
Um sich auf dem Laufenden zu halten und um der Einsamkeit zu entgehen, schaut sie viel Fernsehen. Der Apparat ist ihr Fenster zur Welt. Doch jetzt ist er kaputt gegangen. Sie telefoniert auch mit ihren Kindern, die in Westfalen und in den USA leben. Weil sie nicht mehr gut hört, braucht sie dafür ein Telefon mit Lautsprecher, doch auch dieser funktioniert seit einiger Zeit nicht mehr richtig. Mit dem Rollator geht sie manchmal noch vor die Tür. „Dafür braucht sie dringend winterfeste Schuhe, die sie eigenständig anziehen kann“, sagt ihre Sozialarbeiterin.
„Es ist nicht leicht“, sagt Irina Lesniewska. Dann schweifen ihre Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit, zu dem alten pommerschen Ehepaar, das sie aufnahm, als wäre sie ihr eigenes Kind. „Auch im Unglück muss man Glück haben“, sagt sie und lächelt. Es klingt, als wäre das die Quintessenz ihres bewegten Lebens. Doch manchmal fragt sie sich, ob ihr das Glück irgendwann untreu geworden ist.
Von Simon Benne