Ines Tintemann leidet an Multipler Sklerose. Ihre ganze Familie meistert das Schicksal in beeindruckender Weise – doch ihre finanzielle Situation ist extrem angespannt. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Es geht langsam. Stufe für Stufe kämpft sich Ines Tintemann die Treppen in den ersten Stock empor. Ein Kraftakt für die 41-Jährige. „Kurze Strecken kann ich noch alleine gehen, für längere brauche ich einen Rollstuhl“, sagt sie nüchtern, als sie endlich oben angekommen ist. In ihrer kleinen Wohnung in Linden leben Ines und Justus Tintemann mit Hund Schröder und zwei Kindern.
Seit sie 16 war, arbeitete Ines Tintemann in der Gastronomie. „Vor drei Jahren habe ich noch Bierfässer aus dem Keller geschleppt“, sagt die zierliche Frau. „Inzwischen bin ich fast froh, wenn ich noch eine Kaffeetasse halten kann.“ Ines Tintemann leidet an Multipler Sklerose (MS). Die ersten Symptome bemerkte sie im Jahr 2010; ihre linke Körperhälfte fühlte sich plötzlich irgendwie taub an. „Die letzten drei Schübe haben mir dann viel von dem genommen, was ich hatte“, sagt sie.
Inzwischen fällt ihr das Gehen schwer, sie hat permanent Schmerzen in Armen und Beinen, muss starke Medikamente nehmen. Seit 2015 kann sie nicht mehr arbeiten, mittlerweile bekommt sie eine kleine Rente.
Niemand in der Familie neigt zum Selbstmitleid. Alle müssen ein anderes Leben führen, als sie eigentlich geplant hatten – und alle versuchen, mit Kampfgeist und oft schwarzem Humor das beste daraus zu machen. „Wir haben ein Motto“, sagt Justus Tintemann: „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitermachen!“ In den vergangenen Monaten jedoch stieß selbst ihr ausgeprägter Optimismus an Grenzen. „Das letzte Jahr war beschissen“, sagt der Familienvater, „eine ganz harte Zeit, auch für die Kinder.“
Seine Frau bekam eine schwere Dickdarmentzündung. Lange lag sie in Krankenhäusern, zeitweise im fernen Köln. Sie musste künstlich ernährt werden, schließlich wurde der Dickdarm entfernt. Binnen kürzester Zeit magerte die zerbrechlich wirkende Frau von 60 auf 47 Kilogramm ab. „Wir waren wirklich verzweifelt“, sagt Justus Tintemann.
Auf seinem Handy zeigt er Bilder aus jener Zeit. Die Fotos zeigen seine ausgezehrte Frau zwischen Schläuchen und Monitoren. Dazwischen steht auf einer Schrifttafel der Spruch „Alles wird gut, aber nie wieder, wie es war.“ Justus Tintemann sitzt in der Küche und schaut zu seiner Frau herüber: „Ich bin stolz darauf, wie sie das alles schafft“, sagt er.
Der 44-Jährige, der selbst in der ambulanten Pflege arbeitet, musste sich beruflich eine dreimonatige Auszeit nehmen, um für die Kinder da sein zu können, die zwölf und vier Jahre alt sind. Jetzt hat er sich mit einem zusätzlichen Zweitjob selbstständig gemacht. Kleingewerbe; Hausmeisterservice und Reparaturen. Um die Familie über Wasser zu halten.
„Es ist beeindruckend, wie das Paar zusammenhält und sein Schicksal meistert“, sagt ein Sozialarbeiter, der mit ihnen in Kontakt steht, „doch die finanzielle Situation ist extrem angespannt.“ Wie die Krankheit fortschreiten wird, lässt sich schwer prognostizieren. Es kann zehn Jahre so bleiben, wie es jetzt ist. Es kann schneller gehen. „Sicher ist, dass wir irgendwann ein Pflegebett brauchen“, sagt Justus Tintemann illusionslos. Das kleine Bad bauen sie schon jetzt behindertengerecht um. Ein neues Auto mussten sie auch kaufen; eines, in dem der Rollstuhl Platz hat. Lauter ungeplante Investitionen. „Das letzte Jahr hat uns auch finanziell ausgelaugt“, sagt der Vater.
Die Geschichte der Tintemanns zeigt, wie tragfähig ein Netz aus familiären und nachbarschaftlichen Banden in Not sein kann. „Über die Jahre haben wir immer wieder Nachbarn geholfen“, sagt die Mutter, „jetzt wollen wir zeigen, dass wir uns auch selbst nicht schämen, Hilfe anzunehmen.“ Eltern aus der Kita ihres Sohnes unterstützen sie im Alltag. Besondere finanzielle Hilfen vom Staat bekommen die Lindener nicht, doch in einem Häuschen von Freunden haben sie jetzt eine Woche Urlaub gemacht. Den ersten seit elf Jahren, am Steinhuder Meer. „Das war schön“, sagt Ines Tintemann.
Vor drei Monaten geheiratet
Auch ihre Kinder geben ihnen Halt. „Wenn sie nicht wären, wäre die Situation psychisch noch viel belastender“, sagt die 41-Jährige. Sie erzählt, wie rührend der Vierjährige im Verkehr darauf achtet, dass der Rollstuhl seiner Mutter nicht unkontrolliert auf die Straße rollt. Umso mehr schmerzt es, dass auch die Kinder auf vieles verzichten müssen: Um mit ihnen Schwimmen oder ins Kino gehen zu können, braucht es Geld, Zeit und Mobilität.
Vor drei Monaten haben Ines und Justus Tintemann kirchlich geheiratet, fünf Jahre nach der standesamtlichen Trauung. In der Lindener Bethlehemkirche, wo Justus Tintemann auch Kirchenvorsteher ist. „Wir wollten auch vor Gott zeigen, dass wir zusammengehören“, sagen sie. Beide lächeln sich an. Ein Paar, das sich nicht unterkriegen lassen will.
Von Simon Benne