Manchmal passt die tiefste Wahrheit in einen ganz kurzen Satz. „Er war die Liebe meines Lebens“, sagt Eva Lindau, wenn sie über ihren Mann spricht. Dann kommen ihr die Tränen. Auf gewisse Weise ist ihr Mann noch allgegenwärtig in der liebevoll eingerichteten kleinen Wohnung. Fotos von ihm hängen zwischen der Weihnachtsdekoration, den Kinderbildern und dem selbst gebastelten Adventskalender mit den Stoffsäckchen.
„Letztes Jahr haben wir Weihnachten noch zusammen gefeiert“, sagt die 41-Jährige. Aber eigentlich hatte ihr Leben schon vor drei Jahren begonnen, ihr zu entgleiten. Damals starb zuerst ihre Mutter, dann bekam ihr Mann die verhängnisvolle Diagnose. Krebs. Eva Lindau (Name geändert) kann lange von Chemotherapien erzählen, von Tumor-OPs, von Hoffnungen und Rückschlägen.
Als sie selbst mit einer Bauchspeicheldrüsen-Entzündung ins Krankenhaus kam und drei Wochen lang auf der Intensivstation lag, versorgte ihr kranker Mann die Kinder. Und als sie wieder daheim war, bemerkte sie irgendwann, dass er selbst immer weniger aß und ständig müde war. Noch im vergangenen Sommer versuchte er, wieder mit seiner Arbeit anzufangen. Doch dann brach er zusammen, und in der Klinik zog ein Arzt sie zur Seite: „Sie kriegen ihren Mann wohl nicht wieder.“ Er starb im August.
Eva Lindau erzählt von zwei guten Freunden, die ihr seither helfen, und von ihrem verständnisvollen Arbeitgeber. „Aber oft weiß ich nicht, wie es weitergehen soll“, sagt sie leise. „Jeden Tag wache ich auf und habe die gleichen Probleme wieder vor mir. Langsam geht mir geht die Kraft aus.“ Obwohl sie arbeitet, in einem Büro, 30 Stunden die Woche, reicht das Geld hinten und vorne nicht. Sie bekommt zusätzlich Hartz IV, aber das wird wegfallen, wenn erst einmal ihre Witwenrente ausbezahlt wird.
Ihre Finanzen rechnet sie immer wieder mit spitzem Bleistift durch. Sie kämpft sich durch Formulare für Witwen- und Halbwaisenrente, verhandelt mit Behörden, stellt Pflegegeldanträge – und stößt innerlich immer wieder an das Gefühl, dass ihr Mann jetzt viel besser wüsste, was nun zu tun sei. Ihre Tochter ist gesund, doch ihr Sohn wurde mit einer seltenen Chromosomenstörung geboren. Er besucht eine Förderschule, mit 15 lernt er langsam lesen und schreiben. „Ich weiß nicht, wo die Reise mit ihm hingeht, wie selbständig er einmal durchs Leben gehen kann“, sagt Eva Lindau und muss erneut weinen. Gerade kämpft sie um eine gemeinsame Mutter-Kind-Kur mit ihrem Sohn; vor sich hat sie einen ganzen Stapel Formulare.
Nach der Geburt des Jungen konnte sie selbst lange nicht arbeiten gehen. Auch durch den Verdienstausfall ihres Mannes haben sich hohe Schulden aufgetürmt. „Jetzt fehlt sein Einkommen endgültig, und alleine schaffe ich es nicht“, sagt Eva Lindau. Die 41-Jährige ist eine resolute Frau, die im Leben etwas leistet. Sie wirkt gut organisiert; ein Mensch, der mit seinem Geld haushalten kann. „Den Kindern musste ich sagen, dass sie ihre Ansprüche herunterschrauben müssen, weil ihr Vater jetzt tot ist“, sagt sie. Ein entsetzlicher Satz.
Eva Lindau würde ihren Kindern nach allem, was sie durchgemacht haben, gerne etwas bieten: die technischen Spielzeuge, die sie sich zu Weihnachten wünschen, einen Ausflug in den Heide-Park oder vielleicht sogar einen kleinen Entspannungsurlaub, um wenigstens für ein paar Tage etwas Distanz zu den Sorgen zu gewinnen, die ihr Leben zu erdrücken drohen. Doch dafür reicht das Einkommen nicht.
Immer, wenn ihr die Kraft ausgeht, denkt Eva Lindau an das, was sie ihrem Mann im Krankenhaus versprochen hat. Dass sie es hinbekommen würde, die Kinder alleine groß zu ziehen. „Du schaffst das!“, seien die letzten Worte ihres Mannes gewesen, berichtet sie. „Und mein Versprechen will ich halten“, fügt sie hinzu. So kämpferisch, wie sie dabei wirkt, könnte sie es tatsächlich schaffen. Jedenfalls mit ein wenig Unterstützung.
Von Simon Benne