Fleißig ist sie gewesen. Schließlich wollte sie sich etwas erarbeiten, auf eigenen Füßen stehen. Nach ihrem Realschulabschluss begann sie eine Ausbildung zur Arzthelferin, und nebenbei putzte sie abends im Supermarkt, damit Geld in die Kasse kam. Nach erfolgreichem Abschluss arbeitete sie in einer Praxis, bekam mit ihrem Freund zwei Kinder, fing sogar noch eine zweite Ausbildung an. Und trotzdem steht Julia Meinecke (Namen geändert) jetzt, im Alter von nur 30 Jahren, vor den Trümmern ihrer finanziellen Existenz. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter“, sagt die junge Frau und blickt zu Boden.
Julia Meinecke lebt am Rande eines Dorfes irgendwo in der Region Hannover. Eine kleine Wohnung für fünf Personen. Die Tapete ist teils abgerissen, im Küchenfußboden fehlt ein Stück Linoleum. An der Wand hängen Bilder ihrer Kinder. „Für sie verzichte ich auf alles“, sagt sie, „um ihnen etwas bieten zu können.“
Der Große geht inzwischen zur Schule. Er war schon einmal im Kino, mit ihrem Lebensgefährten. Im Zoo hingegen war die Familie noch nie. So etwas ist nicht drin. „Man nimmt nicht mehr am sozialen Leben teil“, sagt sie leise. Noch äußern die Kinder keine großen Wünsche. Aber sie werden älter. Was, wenn sie einmal Freunde zum Kindergeburtstag einladen wollen? Oder wenn sie neue Fahrräder brauchen, um damit durchs Dorf zu fahren?
„Ich war überfordert“
In die Misere ist Julia Meinecke schleichend hineingerutscht; nicht aus Faulheit, sondern eher aus Hilflosigkeit und Überforderung und aus dem Unvermögen, sich im Dschungel der Vorschriften und Formulare zurechtzufinden. Und je mehr sie die Orientierung verlor, desto tiefer verirrte sie sich darin.
Als sie zum dritten Mal schwanger wurde, musste sie ihre zweite Ausbildung abbrechen. Sie war nun arbeitslos, ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld. Für ihre Krankenversicherung musste sie nun auch ohne eigenes Einkommen die monatlichen Beiträge zahlen. Wäre sie mit ihrem Lebensgefährten verheiratet, wäre sie über ihn familienversichert. Doch Shkodran stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien, für eine Trauung hätte er Papiere aus seiner Heimat vorlegen müssen – unter anderem eine Ledigkeitsbescheinigung, die bestätigt, dass er noch nicht verheiratet war, als er im Alter von neun Jahren nach Deutschland kam. Da solche Papiere für ihn schwer zu beschaffen sind, blieb das Paar ohne Trauschein – und Julia Meinecke bekam fortan regelmäßig Rechnungen ihrer Krankenkasse ins Haus, die sie nicht bezahlen konnte.
Es begann eine schwere Zeit für die wachsende Familie. Shkodran, der die Familie bis dahin ernährt hatte, wurde krank. Er musste sich mehreren Operationen unterziehen, verlor seine Stelle als Kraftfahrer, das Geld ging der Familie aus. Die Kinder nahmen Julia Meinecke voll in Anspruch – und die finanziellen Sorgen wuchsen. „Irgendwann war ich völlig überfordert“, sagt sie heute. „Anstatt rechtzeitig Hilfe zu suchen, habe ich die Augen zugemacht – und die Briefe der Krankenkasse einfach nicht mehr geöffnet.“ Eine verhängnisvolle Kapitulation.
Formulare im Schuhkarton
Sie zieht einen Schuhkarton aus dem Schrank. Darin bewahrt sie alle Papiere auf, die ihr irgendwie wichtig erscheinen. Nach einigem Suchen findet sie ein Schreiben der Krankenkasse. Weil sie nicht mehr auf deren Briefe reagiert hatte, wurden ihre Beiträge hochgestuft – auf einen Satz, den eigentlich Menschen mit einem monatlichen Einkommen von 99?999,99 Euro zahlen müssen. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie die junge Mutter fortsah, um das Unglück nicht sehen zu müssen – und wie dieses sich immer höher auftürmte, je länger sie fortsah.
Inzwischen belaufen sich die Forderungen der Krankenkasse auf mehr als 20?000 Euro, und die Familie bekommt Hilfe von einer Schuldnerberaterin. „Frau Meinecke will unbedingt aus der Situation herauskommen – doch mit drei kleinen Kindern und ihren Schulden schafft sie es nicht ohne Hilfe“, sagt die Sozialarbeiterin, die sie betreut. „Oft fehlt es der Familie am Notwendigen wie Kleidung oder Mobiliar.“ Im Moment teilen sich die drei Kinder ein Zimmer. „Wenn wir ein Etagenbett hätten, könnten wir ihnen wenigstens etwas Platz zum Spielen schaffen“, sagt Julia Meinecke.
Spricht man mit ihr, spürt man neben Scham auch den festen Willen, wieder auf die Beine zu kommen. Ihr Lebensgefährte ist inzwischen wieder gesund und hat einen Job in Aussicht. Sie selbst würde gerne einen Führerschein machen und ein Auto anschaffen, damit sie auch außerhalb ihres Dorfes nach einer Halbtagsstelle als Arzthelferin suchen kann. „Ich würde aber auch alles andere machen“, sagt sie. Eine Privatinsolvenz könnte ihr vielleicht einmal eine neue Perspektive eröffnen – auf ein Leben, das nicht von Schulden erdrückt wird und in dem sie ihren Kindern etwas bieten kann. „Irgendwie“, sagt sie kämpferisch, „müssen wir da wieder rauskommen.“