Zuerst verlor Tatjana Schneider ihren Mann, dann bekam sie Krebs. Jetzt kämpft sie sich ins Leben zurück. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Das Datum hat sie im Kopf, als wäre es ihr Geburtstag. Der 2. Oktober 2002 ist jener Tag, der ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Es war der Tag, als sie in Deutschland ankamen. Vier Tage lang hatten sie im Reisebus gesessen. Dann kamen sie ins Lager Friedland, wo Deutschland seine verlorenen Söhne und Töchter empfängt. Und dann in die Region Hannover.
„Jeder hatte nur einen Koffer mit dem Nötigsten dabei, aber in Russland hatten wir ja auch nie Gelegenheit gehabt, Reichtümer anzuhäufen“, sagt Tatjana Schneider (Name geändert). „Wir waren voller Zuversicht und wollten uns ein besseres Leben aufbauen“, erzählt die 63-Jährige, und für einen kurzen Moment lächelt sie, als wäre mit der Erinnerung auch etwas von der alten Tatkraft zurückgekehrt.
Tatjana Schneider sitzt in ihrer winzigen Wohnung. In der Ecke eine kleine Ikone des heiligen Nikolaus, über dem Bett Familienfotos. Sauber und gepflegt sieht hier alles aus, fast penibel geordnet, als wollte hier jemand beweisen, dass er etwas im Griff hat. Spärlich möbliert ist das Wohnzimmer, in dem auch ihr Bett steht; es gibt kaum etwas Überflüssiges hier. Ein Bild an der Wand zeigt eine kräftige Frau. Das war Tatjana Schneider einmal; vor der Krankheit. „Mehr als 20 Kilogramm Gewicht habe ich verloren“, sagt sie.
Fast durchsichtig wirkt die schmächtige Frau, wenn sie so dasitzt und ihre Geschichte erzählt. Eine Geschichte vom Pioniergeist und vom Fleiß einfacher Menschen, doch auch eine Geschichte von Schicksalsschlägen und vom Scheitern. „Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht“, sagt sie. Sie hat nicht nur als Köchin gearbeitet, sondern auch als Kranführerin und als Melkerin in der Kolchose. In der Welt der ehemaligen Sowjetunion gab es Berufe, mit denen man im Westen keine Karriere machen kann.
Aber sie hatte daheim in der Erde gegraben; Kartoffeln gerodet, Pilze gesucht. Etwas zu leisten war für sie immer Teil des Lebens gewesen, und auch im Westen fand sie Arbeit. In einem Möbelhaus. Doch dann kamen die Krankheiten. „Ich hatte eine Operation nach der anderen, und jedes Mal kam ich schlechter wieder auf die Beine“, sagt sie. Die letzte OP liegt ein paar Monate zurück. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine tückische Krankheit.
„Monatelang habe ich fast nichts gegessen“, sagt Tatjana Schneider. Sie kann von Schwächeanfällen erzählen, vom Übergeben, von der langwierigen, anstrengenden Therapie. „Das war eine schwere Zeit“, sagen ihre Tochter und ihr Enkel, die im Gespräch immer wieder für sie übersetzen müssen. Und am schwersten war das Drama um ihren Mann.
Ihr Mann hatte im Westen leichter Fuß gefasst als sie. Der konnte alles. In der Siedlung, wo sie lange lebten, wohnten Menschen aus zig Ländern. „Er hat sich sofort mit allen verstanden, obwohl auch er schlecht deutsch sprach“, sagt sie. Er war dort Hausmeister, und alle kamen mit ihren Problemen gerne zu ihm. Rasenmähen, Teppiche verlegen, kleine Reparaturen – Handwerker haben oft viele Freunde. „Er war immer gut gelaunt und hilfsbereit“, sagt sie.
Die Diagnose kam völlig überraschend. Er hatte Lungenkrebs. Sie konnte ihn im Krankenhaus lange nicht besuchen, weil sie selbst zu schwach war. Als sie ihn dann sah, lag der einst starke Mann schon hilflos im Bett, an zig Schläuche angeschlossen. Sie war selbst noch in Behandlung, als sie aufopferungsvoll seine Pflege übernahm. Bis er vor einem Jahr dann starb.
„Das war ein schwerer Schlag für Frau Schneider“, sagt der Sozialarbeiter, der sie betreut. Die gezeichnete Frau versank in Depressionen. „Sie ist ein verlorener Mensch, wenn sie falsche Medikamente nimmt“, sagt ihr Enkel.
Doch Tajana Schneider fand noch einmal den Mut zu einem Neuanfang. Sie zog aus der alten, geräumigen Wohnung aus, in eine andere Stadt innerhalb der Region Hannover. „In den alten Räumen konnte ich nicht bleiben; mein verstorbener Mann war dort Tag und Nacht gegenwärtig, alles hat mich an ihn erinnert“, sagt sie.
Jetzt wohnt sie nur wenige Kilometer von ihrer Tochter entfernt. Mit ärztlicher Hilfe kämpft sie sich allmählich aus den Depressionen heraus. Lange ist sie kaum vor die Tür gegangen. Inzwischen hat sie hat einen Kreis von Frauen gefunden, die sich zum Handarbeiten treffen und die ihre Geschichten miteinander teilen. „Sie ist auf dem Weg der Besserung“, sagt ihre Tochter vorsichtig.
Was einst mit vielen Hoffnungen begann, ist zum Leben in Armut geworden. Vom Jobcenter bekommt Tatjana Schneider weniger als 420 Euro im Monat, dazu das Geld für Wohnung und Strom. Außerdem muss sie noch die Schönheitsreparaturen an ihrer früheren Wohnung abbezahlen, die ihr Mann ja nicht mehr übernehmen konnte. „Es reicht gerade zum Leben“, sagt sie.
Tatjana Schneider blickt beschämt zu Boden. „In all den Jahren in Deutschland haben wir nie Hilfe gebraucht“, sagt sie. Sie kämpft mit den Tränen. Gerne würde sie wieder einmal schwimmen gehen, wie als Kind in dem See bei ihrem Dorf weit im Osten. „Ich möchte auch einen Teppich haben und eine Garderobe für den Mantel“, sagt sie. Es sind bescheidene Wünsche einer bescheidenen Frau.
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