Wenn die alte Dame von ihrer Kindheit erzählt, beschreibt sie Szenen aus einer längst versunkenen Welt. Sie spricht von der Zinkbadewanne, in der alle Kinder am Wochenende in der Waschküche nacheinander gebadet wurden. Vom Plumpsklo draußen vor der Tür. Und vom Hüten der Kühe. „In Holzpantinen mussten wir drei Kilometer weit zur Schule laufen“, sagt Bärbel Klie (Name geändert) und lacht.
Die 83-Jährige wuchs in Brandenburg auf. Sie war das dritte von zehn Kindern. Ihr Vater arbeitete in einer Fabrik, nebenbei hatte die Familie die Landwirtschaft.
Wie gemalt sieht die Frau aus, wenn sie in ihrer gepflegten Wohnung mit der Mustertapete im Sessel sitzt. In Vitrinen hütet sie Unmengen von Vasen. Blumen und Pflanzen sind sorgsam arrangiert, auf dem Tisch steht ein Teller mit Keksen. „Die Kinder kommen gern, das kleinste hat gerade wieder bei mir übernachtet“, sagt sie und schaut lächelnd über ihre Brille.
Bärbel Klie hat drei Enkel und fünf Urenkelkinder. Müsste für einen Film die Rolle einer grundgütigen Großmutter besetzt werden, dann wäre die herzliche Frau, die gern lacht und von früher erzählt, die Idealbesetzung.
Ihre Tochter starb früh
Über die Schicksalsschläge in ihrem Leben spricht sie nur sehr zurückhaltend. Die handfeste Frau gehört zu einer Generation, die das Klagen nicht gelernt hat. Dinge, die sie belasten, versucht sie am liebsten mit tapferem Optimismus wegzulächeln. Nur als sie von ihrer Tochter erzählt, wird sie ganz still.
Gerade 22 Jahre war diese alt, als sie von einem Bus überfahren wurde. „Da habe ich Maria natürlich zu mir genommen“, sagt Bärbel Klie leise. Ihre Enkelin war damals gerade ein Jahr alt. Wegen einer Verletzung im Säuglingsalter ist sie behindert, sie braucht Hilfe im Alltag – auch heute noch als erwachsene Frau. Bärbel Klie hat sich um Maria gekümmert, ebenso wie um ihre zweite Tochter und um die Großkinder. „Bis heute hält sie uns alle zusammen“, sagt eine ihrer Enkelinnen, „sie ist der Mittelpunkt der Familie.“
Auch finanziell legte sie sich krumm, um alle durchzubringen. Ihr Mann starb früh; sie selbst arbeitete in einer Fabrik, in einer Gaststätte und als Köchin in einem Pflegeheim. „Ich habe immer gearbeitet“, sagt sie stolz. Zeitweise hatte sie mehrere Jobs gleichzeitig. All diesen war gemein, dass sie nicht reich machten. Vor Jahren schon ist sie in die Region Hannover gezogen, wo die meisten Familienmitglieder bereits lebten. „Auch wegen Maria“, sagt sie. Inzwischen helfen Verwandte bei der Betreuung der behinderten Frau. „Es kann ja sein, dass ich morgen nicht mehr bin“, sagt die 83-Jährige, der das Leben einen nüchternen Realitätssinn mitgegeben hat.
In den vergangenen Jahren überschatteten Krankheiten ihren Alltag. Gallensteine und Knieprobleme, der Magen und das Herz. „Am schlimmsten war der Hautkrebs“, sagt sie, „da haben sie mir das halbe Gesicht weggeschnitten.“ Die Narben sind mittlerweile gut verheilt, aber man sieht sie noch. „Ich bin wie eine Katze – ich habe sieben Leben“, sagt sie und lacht wieder von Herzen. „Ihren Lebensmut hat sie trotz allem behalten“, sagt die Sozialarbeiterin, die sie begleitet. Bärbel Klie lebt von einer sehr schmalen Rente und Pflegegeld. „Ich habe Brot zu essen und keine Schulden“, sagt sie selbst resolut. Das ist ihr wichtig. „Und ich brauche ja nichts Neues, wenn das Alte noch gut ist.“
Erst wenn man nachfragt, zeigt sich, dass ihre Sparsamkeit nicht nur eine Tugend ist, sondern der Not entspringt. „Ich esse auch mal drei Tage lang Eintopf, das macht mir nichts aus“, versichert Bärbel Klie. Junge Leute aus der Nachbarschaft, die Lebensmittel vor dem Container retten, bringen ihr gelegentlich etwas zu essen. Einen Teil ihrer Möbel hat sie geschenkt bekommen.
Armut im Alter
Immer mehr Deutsche sind von Altersarmut betroffen. Inzwischen haben rund 3,2 Millionen Menschen über 65 Jahren maximal 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Viele scheuen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es ist eine stille Armut, die sich oft erst auf den zweiten Blick offenbart.
Vor einiger Zeit lag Bärbel Klie plötzlich bewusstlos im Bad. Ihr Bein hatte sich verfärbt, sie bekam hohes Fieber. Vermutlich ein Infekt. Im Krankenhaus gab es zusätzliche Komplikationen. „Am Ende musste ich neu laufen lernen“, sagt sie. Mit eisernem Willen kämpfte sie sich ins Leben zurück. Mehrmals ist sie seither daheim gestürzt, wiederholt musste sie ins Krankenhaus. „Meine Enkel haben dann meine alten Läufer weggeworfen – sie sagen, das seien Stolperfallen“, erzählt sie achselzuckend.
Neuen Teppichboden in ihrer Wohnung zu verlegen, war eine gehörige Investition für die Familie. Für diese Anschaffung baten sie dann doch um Unterstützung durch die HAZ-Weihnachtshilfe. „Ich möchte ja gern noch ein paar Jahre zu Hause wohnen“, sagt die 83-Jährige.
Aber mit ihrem unerschütterlichen Optimismus wird sie aus allem das Beste machen: „Was kommt, das kommt“, sagt sie.
Von Simon Benne