Sie hatten nicht damit gerechnet, dass es wirklich Krieg geben würde. „Es war ein ganz normaler Tag – ich war bei der Arbeit, unser Sohn in der Schule“, sagt Mariya Vasylenko (Name geändert). Im Februar 2022 lebte die Lehrerin mit ihrer Familie in der Ukraine, nur 80 Kilometer von der russischen Grenze entfernt – in einer Gegend, die plötzlich zum Frontgebiet wurde.
„Anfangs dachten wir noch, dass alles bald wieder vorbei sein würde“, sagt die 37-Jährige, „wir haben gehofft, dass alles gut wird.“ Doch dann schlugen Raketen ganz in der Nähe des Hochhauses ein, in dem sie lebten. „Das ganze Gebäude schwankte so, dass wir dachten, es stürzt ein“, erzählt sie leise.
Mariya Vasylenko musste aus der Ukraine fliehen
Wenn Mariya Vasylenko vom Krieg spricht, spült ihre Erinnerung Momentaufnahmen an die Oberfläche. Unsortierte Bilder, wie Ältere sie auch aus Deutschland noch kennen. Menschen, die bei Bombenalarm in den Keller flüchten. Menschen, die einen Supermarkt stürmen, um sich Lebensmittel zu besorgen. Fenster, die durch Druckwellen zersplittern. Sie selbst las während der Angriffe im Gebetbuch. „Die Kinder hatten solche Angst“, sagt sie. Bei ihr selbst kam noch die Sorge um ihren Sohn dazu, der einen Herzfehler hat: „Ich habe ständig sein Herz gefühlt – es pochte so schnell.“
„Wir mussten fliehen“
In Nachbarorten waren schon Häuser zerstört worden, als sie sich dann doch in ihr altes Auto setzten und in ein Dorf zu Verwandten fuhren. „Wir wollten unser Zuhause nicht verlassen“, sagt sie. Als auch dieses Dorf Ziel eines Angriffs wurde, sah sie keinen anderen Ausweg mehr: „Wir mussten fliehen, nach Deutschland.“
Mariya Vasylenko erzählt ihre Geschichte in fast fehlerfreiem Deutsch. Seit etwa zwei Jahren sind sie nun hier. Anfangs lebten sie in einem Gartenhaus, dann überließ eine deutsche Familie ihnen ihre Wohnung, die für einige Zeit frei war. „Sehr gute Leute“, sagt die 37-Jährige dankbar. Inzwischen hat ihre Familie eine eigene kleine Wohnung, irgendwo in der Region Hannover.
Auf dem Tisch steht eine Obstschale. Hinter Pflanzen liegt die Katze auf dem Fensterbrett, die sie bei ihrer Flucht mitgenommen haben. Ein spärlich, aber liebevoll eingerichtetes Domizil, in dem die 37-Jährige versucht, ein Heim für ihre Lieben zu schaffen.
Sie lebt hier mit ihrer Mutter, ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten. Der 56-Jährige war einst ein guter Sportler. Fußball, Schwimmen, Volleyball. Der groß gewachsene Mann betrieb einen Handel mit Motorradzubehör. Jetzt sitzt er in seinem Rollstuhl am Fenster und hört meist zu, wenn sie erzählt. „Sprechen ist manchmal schwer“, sagt er.
Diagnose: Multiple Sklerose
Mariya Vasylenko glaubt, dass es bei ihm mit dem Autounfall anfing, bei dem er vor einigen Jahren am Kopf verletzt wurde. „Das könnte der Trigger für seine Krankheit gewesen sein“, sagt sie. Jedenfalls fiel ihm bald darauf das Gehen schwer. Dann kam die Diagnose: Multiple Sklerose.
Er bekommt Therapie, macht Gymnastik. Sie betet viel für ihn. „Aber es wird von Monat zu Monat schlechter“, sagt sie und wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. Mariya Vasylenko ist eine zupackende Frau, die dem Krieg und allen Krisen mit Tatkraft und Optimismus begegnet. Im Kampf für ihre Familie lässt sich die Mutter nicht unterkriegen – und doch stößt auch sie manchmal an ihre Grenzen.
Nur wenn sie über ihren Sohn spricht, lächelt sie unbeschwert. Der 13-Jährige geht gerne in die Schule. „Der Unterricht macht ihm Spaß, er ist gut in Mathe und Englisch“, berichtet sie, „und er hat auch deutsche Freunde gefunden.“
Der Junge ist der ganze Stolz der Familie. Dabei hat er es nicht leicht gehabt. Kurz nach seiner Geburt wurde bei ihm ein Herzfehler festgestellt. Das Kind aus der Ukraine wurde, als das noch möglich war, sogar in Moskau behandelt. „Wir haben viel geweint“, sagt seine Mutter.
Fan von Hannover 96
Für sein Alter ist der Sohn auffallend klein und schmächtig. Er darf sich nicht überanstrengen, dabei liebt er Sport und ist ein großer Fan von Hannover 96. Er bekommt Medikamente, die aber starke Nebenwirkungen haben können. Nachts schläft er mit seiner Mutter auf dem Sofa, ein richtiges Bett hat er nicht.
Kleidung, Möbel, Haushaltsgeräte – es fehle der Familie an allem, sagt die Mitarbeiterin einer Hilfseinrichtung, die sich um die Geflüchteten kümmert. „Weil unser Sohn keinen schweren Ranzen auf seinem Rücken tragen kann, bräuchte er einen Trolley zum Ziehen“, sagt Mariya Vasylenko. „Und für seine Bücher würden wir ihm gerne ein Regal kaufen.“
Die Mutter nimmt derzeit an einem Kurs zur Berufsorientierung teil. Ihre Abschlüsse aus der Ukraine würden nicht ohne Weiteres anerkannt, sagt die Lehrerin. „Ich würde gerne als Schulbegleiterin arbeiten oder als Erzieherin im Kindergarten.“ Sie zweifelt nicht daran, dass sie eines Tages auf eigenen Beinen stehen wird. Dass sie für ihre Familie einen Weg finden wird. Wie sie noch immer einen Weg gefunden hat.