Heute war ein guter Tag. Heute hat sie neun Zeitungen verkauft. „Das war bingo!“, sagt Ina Wolf (Name geändert) und strahlt. Fast an jedem Tag postiert sich die 66-Jährige mit ihrem Klappstuhl vor ihrem Supermarkt irgendwo in der Region Hannover, um das Straßenmagazin „Asphalt“ zu verkaufen. „Ich kann da unterm Dach sitzen, auch bei Regen – so gut haben andere ,Asphalt’-Verkäufer es nicht“, sagt sie.
Von jeder Ausgabe könne sie 1,10 Euro behalten, rechnet sie vor – heute hat sie also fast 10 Euro eingenommen. Dafür war gestern ein mieser Tag. „Gestern war Sauwetter, und ich bin nur zwei Zeitungen losgeworden“, sagt sie. „Als ich nach Hause kam, war ich total durchgefroren.“
Seit vielen Jahren schon verkauft sie „Asphalt“. „Ich bin froh, dass ich das habe“, sagt die Seniorin. Wenn sie sich um andere Mini-Jobs bewerbe, werde sie meist sofort ausgesiebt. Vielleicht, weil sie schon 66 Jahre alt ist. „Vielleicht halten die mich aber auch für überqualifiziert, weil ich Abitur und mal studiert habe“, vermutet Ina Wolf.
Es gab nicht den einen großen Schicksalsschlag, der ihr Leben aus der Bahn geworfen hätte. Keine tückische Krankheit, kein familiäres Drama. Ina Wolf hat einfach ein Leben lang wenig Geld verdient und daher eine Rente, die nur für das Allernötigste reicht.
Damit steht sie nicht allein da. Etwa 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner sind akut von Altersarmut betroffen, wie aus Daten der Bundesregierung hervorgeht. Demnach hatten im Jahr 2021 genau 321.347 Rentnerinnen und Rentner weniger als 1200 Euro im Monat, obwohl sie teils deutlich länger als 40 Jahre eingezahlt hatten. In Niedersachsen zählen dazu rund 30 Prozent der Rentner. Und häufig trifft es Frauen, weil diese Kinder großgezogen und weniger eingezahlt haben als Männer. Altersarmut ist weiblich in Deutschland.
Ina Wolf ist eine agile Frau, die gerne Handarbeiten macht, Radtouren unternimmt und Gitarre spielt. Man sieht ihr die Armut nicht an. Aufgewachsen ist sie in Berlin. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, sagt sie. Als sie 13 Jahre alt war, zog die Familie nach Hannover, weil ihre Mutter hier Arbeit in einer Großküche gefunden hatte. Sie selbst machte ihren Realschulabschluss und eine Ausbildung zur Erzieherin. „Damals schrieb ich viele Bewerbungen, doch ich fand keine Arbeit“, erzählt sie. Auf dem zweiten Bildungsweg holte sie dann das Abitur nach.
Oft war sie arbeitslos
Danach fand sie vorübergehend eine Arbeit in einer Einrichtung mit körperbehinderten Jugendlichen. Doch sie wollte studieren; Politik und Französisch. „Das war aber wohl nicht das Richtige“, sagt sie. Nach vier Semestern brach sie das Studium ab, auch weil sie inzwischen alleinerziehende Mutter geworden war.
Da sie mit dem Kind lange nicht arbeiten gehen konnte, lebte sie zeitweise von Sozialhilfe. In den folgenden Jahren bekam sie immer mal wieder Arbeit in Kindergärten; ABM-Stellen oder Vertretungsjobs. Sie fing auch bei einem Pflegedienst an und betreute halbtags einen Rolli-Fahrer. Doch als dieser starb, stand sie wieder ohne Arbeit da. Die Doppelbelastung als berufstätige Mutter war eine schwere Last für sie.
Immer wieder hatte Ina Wolf neue Jobs, immer wieder wurde sie arbeitslos, häufig wechselte sie mit ihrem Sohn die Wohnungen. Im Rückblick war ihr Erwerbsleben ein ständiges Ringen um Arbeit und um Betreuungsplätze für ihren Sohn, ein Pendeln zwischen Sozialhilfe und schlecht bezahlten Anstellungen. „Irgendwann wurden dann nur noch Jüngere genommen, da hatte ich keine Chance mehr.“
Die Frau mit den grauen Haaren, die in einem Märchenfilm umstandslos die Rolle der gütigen Großmutter übernehmen könnte, lebt heute in einer winzigen Wohnung. Und verkauft „Asphalt“. Einerseits gibt diese Tätigkeit ihrem Alltag eine Struktur. „Ich sitze dann tagsüber nicht zu Hause, und die Gespräche mit den Stammkunden sind mir wichtig“, sagt sie. Andererseits hat sie dadurch ein Zubrot, auf das sie nicht verzichten kann.
„Ich komme halbwegs über die Runden“, sagt sie, „aber wenn ich mal was Besonderes brauche, muss ich wochenlang darauf sparen.“ Etwas Besonderes – das kann eine neue Jeans für 40 Euro sein. Oder ein neuer Teppich, als Ersatz für den ausgetretenen alten, dem man ansieht, dass er seit Jahren ihr treuer Begleiter ist.
Mit üppigen Pflanzen und Teelichtern hat sie es sich daheim gemütlich gemacht. Die Möbel hat sie sich größtenteils gebraucht gekauft oder geschenkt bekommen. „Im Supermarkt nehme ich nur Sonderangebote“, sagt sie. Wann sie ihren letzten Urlaub gemacht hat, kann sie auf Anhieb gar nicht sagen. Einmal im Jahr reicht das Geld für eine Fahrt zu ihrem Sohn, der inzwischen weit entfernt lebt.
Was sie tun würde, wenn sie mehr Geld hätte? „Rücklagen schaffen“, sagt Ina Wolf. „Es wäre beruhigend zu wissen, dass ruhig mal was kaputt gehen kann.“ Es ist der bescheidene Wunsch einer bescheidenen Frau.
Von Simon Benne