In der Küche steht eine große Weihnachtspyramide. Ein Erbstück ihrer Großeltern. Und im Wohnzimmer gibt es gleich zwei kleine Christbäume aus Plastik. Früher hat sie die Wohnung nicht so weihnachtlich dekoriert, doch ihr dreijähriger Sohn hat sich das jetzt so gewünscht. „Kilian ist ein richtiges Energiebündel; er hält mich ganz schön auf Trab“, sagt Mila Ehlers (Namen geändert) lachend. „Und er hat mir Weihnachten zurückgebracht.“
Die alleinerziehende Mutter lebt in einem schlichten Mehrfamilienhaus irgendwo im Umland von Hannover. Sie stammt aus einer im Ort alteingesessenen Familie. „Ich bin hier großgeworden und habe das Dorf praktisch nie verlassen“, sagt sie. Sie sagt es nicht bedauernd, sondern eher mit Stolz auf ihre Verwurzelung. Es hat ja auch Vorteile, wenn die Nachbarn wissen, wie es einem geht. Wenn sie helfen können. „Den Schrank und das Sofa habe ich geschenkt bekommen“, sagt die 31-Jährige und lacht.
Diagnose: Morbus Crohn
Überhaupt lacht sie viel. Eine junge, lebensfrohe Frau, die lebhaft erzählt und ständig in Bewegung ist. Man spürt in jeder Minute, wie zuversichtlich die agile Frau mit den langen, blonden Haaren ist. Dass sie dabei einen permanenten Kampf führt, dass sie alles daran setzen muss, sich nicht unterkriegen zu lassen, merkt man ihr hingegen nicht sofort an. Dabei wird ihr Leben von einer tückischen, zermürbenden Krankheit überschattet.
Nach ihrem Realschulabschluss begann Mila Ehlers eine Ausbildung. Die zupackende Frau wurde Fleischereifachverkäuferin, rasch war sie stellvertretende Leiterin einer Filiale und hatte sogar einen Posten als Filialleiterin in Aussicht.
Noch vor ihrer Abschlussprüfung wurde sie allerdings krank. Ständig war ihr schlecht, sie hatte Bauchschmerzen, es ging rapide bergab. „Binnen weniger Wochen magerte ich von 79 auf 55 Kilo ab“, sagt sie. „Die Prüfungen schaffte ich noch, aber mit schlechten Noten – davor hatte ich nur Einsen gehabt.“
Schließlich kommt sie ins Krankenhaus, und nach einiger Zeit wird bei ihr Morbus Crohn diagnostiziert, eine chronische Entzündungskrankheit im Magen-Darm-Trakt. In Schüben leidet sie seither immer wieder unter Fieber, Schwindel und Krämpfen. Übelkeit und Erbrechen gehören zu ihrem Alltag ebenso wie ein unberechenbarer Wechsel aus Durchfällen und Verstopfung.
Angst, etwas zu essen
Als sie in einer besseren Phase ist, wird sie schwanger. Doch schon während der Schwangerschaft verliert sie dramatisch an Gewicht. Nach Kilians Geburt verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand dann zusehends. „Ich hatte Angst, etwas zu Essen, weil ich wusste, dass es sowieso nicht drinbleibt“, sagt sie. „Ich habe mich nur noch mit dem Eimer in der Hand bewegt.“
Sie fühlt sich schlapp, leidet unter Appetitlosigkeit, muss sich immer wieder übergeben. Wieder liegt sie wochenlang im Krankenhaus, Kilian muss fremdbetreut werden. „Er hat lange auf mich verzichten müssen“, sagt die Mutter.
Seit anderthalb Jahren bekommt sie mittlerweile andere Medikamente als zuvor. Seither ist es wieder etwas besser geworden. „Ich muss aber ständig darauf achten, was ich esse“, sagt sie. Von rohen Tomaten bekommt sie sofort starke Schmerzen, Obst und Gemüse verträgt sie kaum. Mittlerweile wurde sie an der Gallenblase operiert. Zwei Stellen in ihrem Darm seien besonders von der Krankheit betroffen, und ihr Dickdarm sei völlig vernarbt, sagt sie: „Der Arzt sagt, er könnte reißen.“
In der Krankheit verlor sie den Job
Ihre Partnerschaft ging während der Krankheit in die Brüche – und ihre Arbeit verlor sie auch. Im Geschäft fehlte sie krankheitsbedingt oft. Schon der Geruch von Wurst und Fleisch schlug ihr auf den Magen. Ihr Vertrag wurde nicht verlängert. Sie arbeitete noch eine Zeit lang als Teilzeitkraft an der Kasse im Supermarkt. Dann ging auch das nicht mehr. Vermutlich wird sie irgendwann im Frührente gehen.
„Mein Arzt sagt, wenn ich mich zu sehr anstrenge, werde ich keine 50 Jahre alt werden“, sagt sie. Oft hat sie das durchgerechnet: Ihr Sohn wäre dann 22. Zu jung, um die Mutter zu verlieren. „Ich möchte gerne so lange wie möglich für ihn da sein“, sagt sie – und für einen Moment ist die sonst so fröhliche Frau sehr ernst. An der Wand hängt ein Herz, das Kilian im Kindergarten ausgeschnitten hat: „Zum Muttertag alles Gute“ steht darauf.
Zu den gesundheitlichen Sorgen kommen noch die finanziellen. Nach Abzug der Miete bleiben ihr und ihrem Sohn nur wenige Hundert Euro im Monat zum Leben. „Ich gehe meist am Montagmorgen einkaufen, wenn alles billig ist“, sagt sie. Die Inflation macht ihr schwer zu schaffen: „Käse können wir uns kaum noch leisten, Fleisch gibt es nur einmal die Woche“, sagt sie. Meist isst Kilian in der Kita, doch wenn er mal krank ist, müsse sie ihn zu Hause versorgen: „Dann wird es schon eng.“
Ihr Wunsch: eine neue Brille
An Urlaub ist nicht zu denken. „Mein Sohn fragt schon, warum andere immer wegfahren und wir nicht“, sagt Mila Ehlers. In der Krankheit hat sie gelernt, mit wenig zufrieden zu sein. Fragt man sie nach ihren Wünschen, sagt sie, dass sie eine Brille brauche. Ihre Augen hätten sich – vielleicht wegen der vielen Spritzen? – so verschlechtert, dass sie kaum noch lesen könne.
„Außerdem braucht Kilian eine neue Matratze“, sagt sie. Ein gebrauchtes Kinderbett hat sie kürzlich für 20 Euro bekommen können, aber die alte Matratze ist durchgelegen und fleckig. „Der Traum meines Sohnes wäre es, eine Carrera-Bahn zu Weihnachten zu bekommen“, sagt die Mutter. Es sind die Wünsche einer jungen Frau, die ihrem Kind etwas mitgeben möchte. Und die fest entschlossen ist, aus jeder Situation das beste zu machen.
Von Simon Benne