Ihr Bruder war mit der Erziehung seiner kleinen Tochter völlig überfordert. Also nahm Michaela Mey das vernachlässigte, traumatisierte und unterernährte Kind zu sich. Jetzt braucht die resolute Frau selbst Unterstützung. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Von Simon Benne
Ein Dorf irgendwo in der Region Hannover. Ein vermeintliches Idyll aus knorrigen Eichen und Backsteinbauten mit Schützenscheiben an den Giebeln. Michaela Mey (Namen geändert) zog vor vielen Jahren aus der Stadt hierher. Ihre mittlerweile fast erwachsenen Söhne wuchsen hier auf. Sie hat die beiden groß bekommen, obwohl es nicht immer leicht war. Der ältere ist sozial-emotional beeinträchtigt: „Er kann Gefühle nicht gut einschätzen“, sagt die 43-Jährige, „und als sein Vater starb, wurde es noch schlimmer.“
Die Mutter hat viel Zeit damit verbracht, mit Lehrerinnen, Ärzten und Therapeuten zu sprechen. Und darüber fand sie eine neue Aufgabe: Die gelernte Hotelfachfrau sattelte beruflich um und wurde pädagogische Mitarbeiterin. „In jeder Krise liegt auch eine Chance“, sagt sie mit einem Lächeln, das zeigt, wie kämpferisch sie sein kann. Als Schulbegleiterin unterstützte sie autistische und hyperaktive Kinder im Unterricht: „Es ist schön, ihnen dabei zu helfen, den Schulalltag zu meistern“, sagt sie.
Michaela Mey sitzt am Tisch in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung. An der Wand hängen Familienfotos, der Rasen des kleinen Gartens draußen ist akkurat gestutzt. Den Kühlschrank zieren selbstgemalte Kinderbilder. „Die hat Lisa in der Krippe gemacht“, sagt sie. Sie lächelt dabei stolz, und ihre Züge konservieren das Lächeln noch einen Moment lang, als sich ihr Blick verdüstert.
Drogen, Polizei und Jugendamt
Die vor zwei Jahren geborene Lisa ist die Tochter ihres Bruders. Michaela Mey ist eine resolute, patente Frau, die einen zupackenden Eindruck macht und gerne lacht. Doch als das Gespräch auf Lisas leibliche Eltern kommt, wird sie sehr ernst. Sie beschreibt ihren Bruder als eine freundliche, aber labile Persönlichkeit. „Er ist schon mit sich selbst völlig überfordert, es ist absolut unmöglich, dass er ein Kind großzieht“, sagt sie entschieden.
Wenn sie von ihrem Bruder und dessen Partnerin spricht, dann spricht sie von Ärger mit Arbeitgebern und davon, wie das Paar seine Wohnung verlor. Sie berichtet von Drogen und massiven psychischen Problemen, von Polizeieinsätzen und Gerichtsverhandlungen. „Es war alles dramatisch“, sagt sie kopfschüttelnd.
Sie selbst informierte irgendwann das Jugendamt, weil die Eltern sich nicht angemessen um Lisa kümmerten. Vor sich auf dem Tisch hat sie eine dicke Mappe mit anwaltlichen Schreiben und Gerichtsdokumenten. In einer langen Auflistung hat sie im Zuge des juristischen Verfahrens selbst zusammengefasst, in welchem Zustand Lisa war, als sie noch bei ihrem Bruder lebte.
„Sie hat regelrecht gestunken“, heißt es darin. Die Windeln seien nur unregelmäßig gewechselt worden. Oft sei das Kind in seinem Zimmer unbeaufsichtigt allein gewesen, sich selbst überlassen, während sich die Eltern bis in die Morgenstunden mit Computerspielen beschäftigt hätten. Untergewichtig und schlecht ernährt sei das Mädchen gewesen. Auf ihrem Handy hat Michaela Mey mit Fotos dokumentiert, wie verdreckt und ungepflegt die Fußnägel des Kindes damals waren.
Ein traumatisiertes Kind
„Lisa hat vor Hunger die Wand angenagt“, sagt sie. Sie zieht ein weiteres Schriftstück aus dem Ordner. Der Beschluss des Amtsgerichts, das den leiblichen Eltern das Sorgerecht für Lisa entzog. Das Kind kam zu ihr, sie hat mittlerweile die Vormundschaft beantragt. „Lisa hat anfangs bis zum Erbrechen gegessen“, sagt sie. Selbst Steine, Blätter oder Kot habe sich das Mädchen in den Mund gesteckt. „Als ob sie Angst hätte, nichts zu bekommen“, sagt Michaela Mey.
„Lisa kam traumatisiert, verwahrlost und unterernährt zu ihr“, bestätigt die Sozialarbeiterin, die Michaela Mey begleitet. Seit einem halben Jahr lebt das Mädchen jetzt bei seiner Tante. Noch immer leide die Kleine unter Essstörungen, unter Angst vor dem Alleinsein und unter Wutausbrüchen. „Sie weiß oft nicht, wohin mit sich“, sagt diese.
Ihre Liebe zu dem Kind hat all das nicht geschmälert. Im Gegenteil: „Lisa war von Anfang an mein Ein und Alles“, betont Michaela Mey. „Ich habe die Verantwortung für sie übernommen, sie soll nicht von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht werden.“ Mittlerweile geht Lisa in eine Krippe. „Sie fühlt sich dort sehr wohl“, sagt ihre Tante. Man spürt, wie wichtig es ihr ist, ihrer Nichte ein behütetes Zuhause zu bieten. „Lisa ist bei uns angekommen“, sagt sie, „sie hängt an uns.“
Lebensmittel von der Tafel
Auf Fotos, die sie auf dem Handy hat, ist ein lächelndes Kind zu sehen. Ein aufgeweckter Wildfang. „Wir sind froh, dass sie schon so viel aufgeholt hat“, sagt sie. Michaela Mey hat dafür allerdings einen hohen Preis bezahlt. Sie selbst hat ihren Beruf auch wegen Lisa nicht mehr ausüben können. Jetzt, da das Kind in der Krippe angekommen ist, will sie eine Weiterbildung machen und möglichst bald wieder als Schulbegleiterin arbeiten.
Derzeit lebt sie allerdings von jener Unterstützung, die langläufig als Hartz IV bekannt ist. Beim Einkaufen muss sie jeden Cent dreimal umdrehen. Auch bei der Tafel habe sie sich schon Lebensmittel besorgen müssen, erzählt sie. „Ich habe mir auch Geld geliehen.“
Lisa kam ohne Bett, Kleidung oder Spielzeug zu Michaela Mey. Sie und ihr Lebensgefährte mussten alles neu anschaffen: „Von der Ausstattung für die Krippe bis zu Kinderzimmermöbeln haben sie alles selbst gekauft“, sagt die Sozialarbeiterin, die sie betreut. Die ungeplanten Anschaffungen haben Lücken in das schmales Budget von Michaela Mey gerissen, die sie aus eigener Kraft nicht stopfen kann.
„Ich wünsche mir, bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen“, sagt die optimistische Frau. „Es gibt viele Inklusionskinder, die ich in der Schule begleiten könnte.“ Mit ein wenig Unterstützung könnte die Familie ihre größten finanziellen Sorgen irgendwann hinter sich lassen. Ihr größter Wunsch allerdings ist, dass Lisa ihren Weg im Leben findet. „Das Kind“, sagt Michaela May, „bedeutet alles für mich.“