Er verlor seinen Job, die Ehe zerbrach. Karl Bleeke wurde zum wohnungslosen Alkoholiker. Mit etwas Unterstützung kann er jetzt wieder Fuß fassen. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe. Von Simon Benne.
Er hat gerade Pause, also kann er mal raus aus dem Geschäft. Obwohl eine kurze Arbeitspause kaum reicht, um von all den Höhenflügen und Abstürzen seines bewegten Lebens zu erzählen. Karl Bleeke (Name geändert) stammt aus behüteten Verhältnissen. Er wuchs mit drei Geschwistern in einem Dorf unweit der Weser auf, sein Vater war Schmiedemeister. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, sagt der 57-Jährige beim Pausenkaffee.
Nach dem Realschulabschluss machte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, bald wurde er stellvertretender Marktleiter bei einer Supermarktkette. Aber das reichte ihm nicht. „Dort verdiente ich zu wenig“, sagt er. Also sattelte er um, wurde Maschinenführer in einer Fabrik, später arbeitete er als Lkw-Fahrer und auf Baustellen. Ein Mann, der zupacken kann.
Ein Unfall schränkte ihn ein
Als er 1996 seine spätere Frau kennenlernte, zog er zu ihr nach Hannover. Gemeinsam bekamen sie einen Sohn – und gemeinsam trotzen sie allen Widrigkeiten. Als er arbeitslos wurde, zog er mit ihr kurzerhand für fast ein Jahr nach Mallorca, um dort mit Bekannten eine Finca hochzuziehen.
Später arbeitete er auf Baustellen in Holland und Belgien. „Ich habe da gutes Geld verdient – und alle 14 Tage war ich zu Hause“, sagt er. Dann hatte er 2008 seinen Unfall. „Ich fiel vom Gerüst, mehrmals musste ich operiert werden – damals habe ich ewig gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen“, sagt er. Lange lag er im Krankenhaus.
Karl Bleeke spricht in gewählten Worten. Er berichtet sehr reflektiert von den Höhen und Tiefen seines Lebens. Der Mann mit den markanten Zügen ist eine elegante Erscheinung. Seine weißen Haare sind akkurat frisiert, er trägt seinen Schal mit großer Lässigkeit – und er ist ein angenehmer Erzähler. Niemand, von dem man denken würde, dass er jemals ganz unten landen könnte. Und doch erzählt seine Geschichte davon, wie kurz der Weg aus dem bürgerlichen Leben in den Abgrund sein kann – und wie steinig und langwierig der Wiederaufstieg.
„Danach ging es bergab“
Als es nach dem Unfall wieder besser wurde, konnte er nicht mehr auf dem Bau arbeiten. Er fing in einem kleinen Supermarkt an, für weniger Geld. Doch er blieb – bis die Filiale 2015 geschlossen wurde. „Danach ging es bergab“, sagt er.
Karl Bleeke verlor seinen Job, und er fing immer stärker an zu trinken. Seine Ehe ging in die Brüche. Arbeitslosigkeit, Alkohol und familiäre Probleme bildeten bald einen kreisenden Strudel, der ihn binnen weniger Monate in die Tiefe zog. „Oft kam ich gar nicht mehr aus dem Bett – ich musste eine halbe Flasche Wodka trinken, um mich überhaupt auf den Beinen halten zu können“, sagt er im Rückblick.
Er kümmerte sich nicht mehr um die Post und um Rechnungen, bezahlte die Miete nicht mehr. „Mir war irgendwann alles egal geworden“, sagt er. So verlor er auch noch das kleine Appartement, das er nach der Trennung von seiner Frau bezogen hatte.
Wochenlang schlief er im Bulli
Auf der Straße habe er nie schlafen müssen, sagt er. Und doch war er wohnungslos. Mal ließ ihn ein Kumpel ein paar Wochen lang in seinem Bulli schlafen, mal durfte er beim Bekannten eines Bekannten im Keller übernachten. Dazu kamen Depressionen, Suizidgedanken, Klinikaufenthalte.
Wie viele Entzüge er gemacht hat, kann er auf Anhieb gar nicht sagen. Zehn oder zwölf werden es gewesen sein. „Ich habe immer geglaubt, ich finde alleine da wieder raus – aber ich bin immer wieder zurückgefallen.“
Sein Sohn, selbst noch ein Teenager, zog ihn dann eines Tages zur Seite. „Er sagte mir: ,Wenn du so weitermachst, will ich mit dir nichts mehr zu tun haben’“, sagt Karl Bleeke. Er lehnt sich zurück und atmet tief durch. „Mein Sohn konnte nicht mit ansehen, wie ich mich kaputtsaufe.“
Wenn er davon erzählt, ist es, als sei dieses Gespräch für ihn der entscheidende Wendepunkt gewesen. Danach entschloss er sich zu einer stationären, dreimonatigen Therapie. „Ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe – sonst wäre ich heute vielleicht schon nicht mehr am Leben.“
Nach der Langzeittherapie bekam er ein Zimmer in einer Einrichtung der Diakonie. Dort werden trockene Alkoholiker wie er langsam auf den Alltag vorbereitet, „mit zugeteiltem Taschengeld und regelmäßigen Alkoholkontrollen“, wie er selbst sagt. Das sind die ersten Schritte zurück in ein selbstbestimmtes Leben.
„Ich werde mit null anfangen“
„Bald wollte ich was um die Ohren haben, eine Aufgabe“, berichtet Karl Bleeke. Das Jobcenter vermittelte ihm eine Maßnahme im sozialen Kaufhaus „Fairkauf“. „Das passte gut, ich komme ja aus dem Einzelhandel.“
Anfangs arbeitete er dort vier Stunden am Tag, für ein paar Euro. „Danach tat mir alles weh, aber ich habe es durchgezogen“, sagt er stolz. Seit mehr als einem Jahr ist er jetzt dabei, inzwischen arbeitet er sechs Stunden täglich. Und er hat gute Chancen, bald in ein Programm zu wechseln, bei dem ihm der normale Tariflohn gezahlt wird. „Hier herrscht ein familiäres Klima, man hilft sich gegenseitig“, sagt er.
„Herr Bleeke ist auf einem guten Weg“, bescheinigt ihm die Sozialarbeiterin, die ihn bei „fairkauf“ begleitet. „Für Menschen wie ihn ist die Tätigkeit hier auch ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt – sie bekommen hier Anerkennung und Wertschätzung“, sagt sie.
In der kommenden Woche wird Karl Bleeke eine eigene Ein-Zimmer-Wohnung beziehen, in Linden. „Frisch renoviert, aber mit nichts drin“, sagt er. „Ich habe ja nichts, ich werde mit null wieder anfangen.“ Er betont dabei nicht „null“, sondern „ wieder anfangen“. Denn auch, wenn er Möbel, Hausrat und Kleidung noch nicht hat, so hat er jetzt doch das wichtigste: eine Perspektive.
„Ich bin auf dem aufsteigenden Ast, beruflich und privat“, sagt er und lächelt glücklich. Mit seiner Ex-Frau ist er sich nämlich wieder näher gekommen. An den Wochenenden besucht er sie. Weihnachten will er mit ihr und dem Sohn verbringen.
Mit ein wenig Unterstützung kann der 57-Jährige noch einmal ein neues Leben beginnen. Inzwischen blickt er optimistisch in die Zukunft: „Aber ich musste erst richtig abstürzen, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen.“