Unecht habe sich das angefühlt, sagt sie. Die Diagnose des Arztes nahm sie noch wahr. Bösartiger Tumor, Brustkrebs. Alles, was der Doktor danach sagte, rauschte an ihr vorbei. „Als wäre ich gar nicht da“, sagt sie. Sie musste irgendetwas ausfüllen, bekam Informationen, die sie nicht verstand. „Ich hatte so große Angst“, sagt Beate Schmitz (Name geändert). Sie fährt sich durch die kurzen Haare, die allmählich wieder nachwachsen. Dann kommen ihr die Tränen.
Die 37-Jährige sitzt daheim, ein Hochhausblock irgendwo in der Region Hannover. Im Flur stehen die Schuhe ihres Mannes und der vier Kinder in Reih und Glied, darüber prangt als Deko ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Ich liebe dich“. An der Wand hängt Selbstgemaltes der Kinder, ihr Jüngster geht jetzt in die zweite Klasse.
Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass ihr Leben aus den Fugen geriet. Beim Duschen hatte sie festgestellt, dass da etwas nicht stimmte. Wann genau Sie die Diagnose bekam? Beate Schmitz überlegt noch, als ihre Tochter schon aus dem Hintergrund ruft: „Das war am 19. Februar.“ Die 15-Jährige hat all die Daten jenes Leidensweges im Kopf, den die ganze Familie seither gegangen ist.
Sie ging hochschwanger putzen
Beate Schmitz stammt aus Thüringen. Als Kind zog sie mit ihren Eltern nach Hannover, weil diese hier Arbeit fanden. Obwohl der Umzug schwer für sie war, schaffte sie den erweiterten Hauptschulabschluss. Als sie die Schule verließ, hatte sie ihren heutigen Mann Frank schon kennengelernt und war schwanger, mit 16 Jahren. Anderthalb Jahre darauf kam das zweite Kind. „Für die Kinder habe ich mich bewusst entschieden“, sagt sie mit fester Stimme. Es gibt Dinge, die sind nicht verhandelbar.
Eine Ausbildung machte sie nicht. „Wenn man schwanger ist oder kleine Kinder hat, ist es auch nicht leicht, etwas zu finden“, sagt sie. Beate Schmitz ist eine bodenständige Frau, die zupacken kann. Sie sagt von sich selbst, sie habe im Leben immer alles so gut erledigt, wie es eben ging. Ihr Optimismus ist so unverwüstlich wie ihr Wille, das Beste aus allem zu machen. Eigentlich.
Immer wieder ging sie arbeiten, um etwas dazu zu verdienen. Sie putzte, teils reinigte sie hochschwanger mit dem Industriestaubsauger große Hallen. Manchmal nahm sie die kleinen Kinder zur Arbeit mit. Frank kochte in einer Kneipe und putzte ebenfalls, beide kellnerten auch. „Trotzdem waren wir lange vom Jobcenter abhängig“, sagt sie.
Die Chemo war ein Leidensweg
Das änderte sich vor einigen Jahren. Frank fand seinen heutigen Job als Lagerist bei einer großen Einzelhandelskette, er bekam sogar einen festen Vertrag. Und dann frage seine Chefin, ob nicht auch Beate einen dauerhaften Job haben wolle. So bekam sie eine Festanstellung als Servicekraft. „Es lief gut, wir konnten finanziell auf eigenen Beinen stehen“, sagt sie. „Wir waren froh, keine Anträge auf Unterstützung mehr stellen zu müssen.“
Sie verdiente fast 1300 Euro netto, ihr Mann noch etwas mehr. Mit vier Kindern konnten sie damit nicht luxuriös leben, auf einen Urlaub mussten sie lange sparen. Bis heute schlafen der jüngste Sohn und die Eltern gemeinsam im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung. Aber das, was sie sich erarbeiteten, reichte. Bis die Krankheit kam.
Beate Schmidt durchlitt eine lange Chemo-Therapie. Haarausfall, Erbrechen, Müdigkeit. Das schlimmste sei der Gedächtnisverlust gewesen, sagt sie. „Ich musste mir alles aufschreiben, das Gehirn funktionierte nicht mehr. Das war eine sehr, sehr harte Zeit.“ Frank hört mit gesenktem Blick zu, wenn sie davon erzählt. Seit 23 Jahren sind sie jetzt ein Paar, man spürt die große Nähe unter den beiden. Wenn sie weinen muss, nimmt er ihre Hand. „Wir haben sie oft zwingen müssen, etwas zu essen“, sagt er.
Therapie – oder Geld verdienen?
Im Oktober kam dann die Operation. „Die Ärztin hat gesagt, es sei irgendwie gut verlaufen“, sagt Beate Schmitz. Medizinische Details sind nicht so ihre Sache. Dann aber empfahl die Ärztin ihr noch eine zweie Chemotherapie, zur Sicherheit, die sechs Monate dauern soll. „Dann wäre meine Chance höher, dass es nicht wiederkommt.“ Beate Schmitz atmet tief durch. „Ich dachte, ich hätte es hinter mir – aber das war noch mal ein heftiger Schlag.“
Ihre Sorge gilt nicht den Strapazen der Therapie. Ihre Sorge gilt dem Geld. Seit Februar ist sie arbeitsunfähig geschrieben. Das Krankengeld, das sie mittlerweile bekommt, liegt einige Hundert Euro unter ihrem Lohn. Die Differenz ist genau jene Finanzspanne, die es ihnen ermöglicht hatte, über die Runden zu kommen. „Wir konnten inzwischen Rechnungen nicht mehr bezahlen und haben bei Freunden und Verwandten Schulden gemacht“, sagt sie. „Die Schmitz sind sehr fleißige Menschen, die ohne jede eigene Schuld in Not geraten sind“, sagt eine Sozialarbeiterin, die die Familie gut kennt.
Für Weihnachtsgeschenke reicht es nicht
Längst kauft das Ehepaar nur noch das Nötigste ein. Eine kaputte Jeans bei den Teenagern kann schon zum echten Problem werden, auch für richtige Weihnachtsgeschenke wird das Geld nicht reichen. „Wir stopfen nur noch Löcher“, sagt sie bitter. „Wenn wir an einer Stelle etwas ausgeben, fehlt es an der anderen.“ Dass sie den Kindern Wünsche abschlagen müssen, das sei das Schwerste. Der Einkaufsbummel mit den Schulfreundinnen, ein Paar neue Schule – das ist einfach nicht drin.
Beate Schmitz ist jetzt im Zwiespalt. Soll sie die Chemo machen? Oder doch besser arbeiten gehen? „Ich will, dass wir unser normales Leben wieder zurück bekommen“, sagt sie. Doch dazu braucht es zwei Dinge: Gesundheit und Geld. Sie hat einen Arzt sogar gefragt, ob sie nicht trotz Chemotherapie wieder arbeiten könnte. Aber der hat nur den Kopf geschüttelt.
Ihr Mann macht ihr Mut: „Wir haben es bis hierher geschafft, da werden wir die paar Monate Chemo auch noch durchhalten“, sagt er. Er legt den Arm um seine Frau. „Finanziell wird das ein hartes Brett – aber wir möchten doch, dass du gesund wirst.“