Seit einem Autounfall ist Emma Fuchs stark gehbehindert. Die alleinerziehende Mutter kämpft um den gemeinsamen Alltag mit ihrem kleinen Sohn. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Manchmal gibt es einen einzigen Tag, der das Leben in ein Davor und ein Danach teilt. Für Emma Fuchs (Name geändert) ist dieser Tag der 30. September 2001. Das Datum hat sie im Kopf wie andere Menschen ihren Geburtstag. „An dem Tag hat sich alles verändert“, sagt die 41-Jährige.
Es sind eher schemenhafte Momentaufnahmen, die ihr von dem Unfall noch in Erinnerung sind. Ihr damaliger Freund war gefahren. Sie saß auf dem Beifahrersitz, als der Wagen von der Autobahn abkam und sich dreimal überschlug. Sie weiß noch, wie sie langsam aus dem Wrack kroch. Wie sie danach im Wagen ihr Handy klingeln hörte und sich überlegte, ob sie nicht zurück kriechen müsste, um ranzugehen. Wie sie auf der kalten Erde lag und ein Polizist ihre Wange tätschelte, um sie wach zu halten. Und wie sie dann ins Krankenhaus kam, zur Notoperation.
„Erst Wochen später habe ich richtig wahrgenommen, welche Ausmaße meine Verletzungen hatten“, sagt sie heute. Beide Füße waren gebrochen, ihr linkes Bein war völlig verdreht und zertrümmert. Die Ärzte sagten ihren Eltern, dass sie von Glück reden könnten, wenn ihre Tochter jemals wieder laufen lernen würde. Sechs Monate lag sie damals im Krankenhaus, es folgten neun Monate Reha. „Und langsam habe ich tatsächlich wieder laufen gelernt“, sagt Emma Fuchs.
„Heute starke Schmerzen“
Sie sagt es ohne Triumph, denn inzwischen weiß sie, dass das kein Happyend war, sondern nur ein Etappensieg. Eine Zwischenstation in einer unablässigen Folge aus Komplikationen, Krankenhausaufenthalten, Operationen, Behandlungen und erneuten Rückschlägen.
Emma Fuchs wuchs in einem Dorf in der Lüneburger Heide auf, ihr Vater war Kraftfahrer, die Mutter Hausfrau. Nach der Hauptschule machte sie eine Ausbildung zur Gärtnerin. „Man musste sich schon ganz schön zusammenreißen, dass man die ganzen lateinischen Pflanzennamen lernt“, sagt sie lächelnd. Weil sie danach keine Stelle fand, arbeitete sie als Reinigungskraft und im Lager einer Bekleidungsfirma. Keine Jobs, mit denen man reich wird. Und doch war ihr Leben im Lot bis zu jenem 30. September 2001.
„Gestern bin ich viel gelaufen, darum habe ich heute wieder starke Schmerzen“, sagt sie tapfer. In ihrer Wohnung kann sie ein paar Schritte selbständig gehen. Draußen braucht sie einen Rollstuhl oder Gehstützen. Lange stehen kann sie nicht; das Bein, die Hüfte und der Rücken spielen nicht mehr mit.
Immer wieder Operationen
Immer wieder musste Emma Fuchs in den vergangenen Jahren operiert werden, das Bein eiterte, sie litt an chronischen Entzündungen. Vor gut zwei Jahren dann, sie war wieder einmal im Krankenhaus, brach beim ganz gewöhnlichen Gehen plötzlich ihr Oberschenkel. Wieder gab es eine Not-OP, diesmal musste sie für drei Monate in der Klinik bleiben und für weitere drei Monate in der Reha. Doch diesmal war es nicht mehr nur ihr eigenes Drama. Es war auch das Drama ihres Kindes. Denn 2015 war Emma Fuchs Mutter geworden. Max ist heute fünf Jahre alt.
An den Wänden ihrer kleinen Wohnung hängen selbst gebastelte Figuren, am Fenster prangen Weihnachtssterne. Das Adventsgesteck mit den bunten Lichtern hat sie gemeinsam mit Max gemacht. Auf dem Fußboden liegen Playmobilfiguren und Matchboxautos. Es ist eine Wohnung, in der ein Kind im Mittelpunkt steht. „An manchen Tagen kann ich nicht mehr, dann ist mir alles zuviel“, sagt die 41-Jährige, die zeitweise unter Depressionen und Angstzuständen leidet, „aber für Max raffe ich mich dann immer wieder auf.“
Ihre eigenen Eltern sind mittlerweile verstorben, und weil niemand da war, der sich während ihrer Klinikaufenthalte dauerhaft um Max kümmern konnte, musste der Junge wiederholt in ein Kinderhaus, das sich um Söhne und Töchter kranker Eltern kümmert.
Der Sohn litt unter Trennungen
An Max sind die Trennungen nicht spurlos vorübergegangen. Er musste in psychologische Behandlung, leidet unter Verlustängsten. Wenn Wörter wie „Krankenhaus“ oder „Arzt“ fallen, wird er schon hellhörig. „Er hat Angst, dass ich nicht wiederkomme“, sagt sie. Es gibt Tage, an denen er nicht in die Kita will und sehr anhänglich ist. Einmal, nach einer langen Trennung, ließ er sich von seiner Mutter nicht mehr anfassen: „Das hat am meisten weh getan“, sagt Emma Fuchs. Es dauerte, bis er ihr wieder vertraute.
Die Mutter erzählt, dass ihr Sohn immer Rücksicht auf sie nehme, ihr sogar helfen will. „Komm, Mama, Laufen lernen!“ – so animiert der Fünfjährige seine Mutter manchmal zum Training. „Ich leide darunter, dass ich nicht mit ihm auf dem Boden toben kann“, sagt sie. Seit Langem schon hat sie Hilfe im Alltag. Alleine würde sie das nicht schaffen – den Haushalt, die Arzttermine, den Gang zum Kindergarten.
Keine Pläne für die Zukunft
Die medizinischen Prognosen sind eher düster. „Ich glaube nicht, dass alles wieder gut wird“, sagt sie selbst nüchtern, „Pläne für die Zukunft mache ich nicht – bisher ist ja alles schief gegangen.“ Ein Arzt habe ihr gesagt, dass das linke Bein vielleicht irgendwann amputiert werden müsse. „Jede Operation schwächt den Knochen weiter“, sagt die Familienhelferin, die die Alleinerziehende und den Sohn seit drei Jahren betreut. „Finanziell kommen sie zurecht, aber besondere Wünsche können sie sich nicht erfüllen“, erklärt die Sozialarbeiterin.
Emma Fuchs bekommt Hartz IV und muss mit wenigen Hundert Euro im Monat auskommen. „Kinderkleidung bekommen wir gebraucht von Bekannten, und wir kaufen nur, was wir wirklich brauchen“, sagt sie bescheiden, „wir kommen schon klar.“ Ein paar Wünsche hat sie aber doch. Nicht für sich, sondern für ihren Sohn.
„Ich würde gerne Max’ Zimmer renovieren“, sagt sie. Vielleicht mit einer Fußballtapete oder einem Hochbett, wie es seine Freunde haben. Und Geschenke soll Max zu Weihnachten bekommen. Knetgummi, ein Puzzle und einen Teddy. Einmal ist sie mit ihrem Sohn für ein paar Tage verreist. Eine Freizeit mit einer Gruppe für Eltern mit Behinderung. „Das war aufregend“, sagt sie und lächelt einen Moment. Es sind solche gemeinsamen Erlebnisse, die ihre Bindung festigen. Und die sie Kraft schöpfen lassen für den Kampf um einen gemeinsamen Alltag mit Max.
Von Simon Benne