Erna Vogel ist 94 Jahre alt und bekommt nach einem arbeitsreichen Leben eine winzige Rente. Auf ein neues Hörgerät müsste sie fünf Jahre warten. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Es geht langsam, aber es geht. Mit dem Rollator dreht Erna Vogel (Name geändert) am Maschsee ihre Runde. Es ist ein milder Herbsttag, und die gelernte Kinderpflegerin war hier früher oft. Sie war gerade 17 Jahre alt, da leitete sie schon einen Kindergarten mit 60 Jungen und Mädchen. „Mit den Gruppen sind wir hier immer spazieren gegangen“, sagt sie und lächelt. Das war im Krieg.
Man sieht Erna Vogel nicht an, dass sie 94 Jahre alt ist. Sie ist eine hellwache, würdevolle alte Dame, die auch auf ihr Äußeres etwas hält. Sie wuchs in einem Hinterhaus in der Spichernstraße auf. „Gespielt haben wir am Welfenplatz, zwischen den Kasernen“, sagt sie.
Später zog ihre Familie in die Südstadt um. „Im Kindergarten dort konnte ich leider nicht lange arbeiten“, sagt sie. In der Bombennacht auf den 9. Oktober 1943 wurde dieser zerstört, auch ihr Elternhaus lag in Trümmern. „Wir hatten nur noch, was wir am Leibe trugen.“ Eine Geburt im Luftschutzkeller
Während sie erzählt, fällt ihr Blick auf ein kleines Mädchen, das am Maschseeufer spielt. „Süß, die Lüttje“, sagt sie und lacht. Sie selbst hatte drei Kinder. Früh hat sie geheiratet. „Mein Mann war Soldat und bekam drei Tage Hochzeitsurlaub – wir kannten uns eigentlich kaum.“ Ihre Tochter brachte sie 1944 im Luftschutzkeller zur Welt. Vor einigen Jahren starb diese viel zu früh an Krebs.
Erna Vogel kann von der Wohnungsnot und dem Hunger nach dem Krieg erzählen. Und vom Steineklopfen. „Ich habe Mörtel von Ziegeln gekratzt und sie in den vierten Stock geschleppt, damit wir ein Dach überm Kopf bekamen“, sagt sie. Ihr Mann war da noch in Gefangenschaft. „Das Wort Trümmerfrau klingt so komisch, aber ich bin wohl selbst eine“, sagt sie.
Obwohl verheiratete Frauen damals oft zu Hause blieben, ging sie immer arbeiten. Sie war Platzanweiserin im Theater am Aegi, verkaufte Süßigkeiten im Kino und Eis auf der Messe. Oder sie bediente in einem Geschäft für Damenkonfektion. „Arbeit hat mir immer Spaß gemacht“, sagt sie. Urlaub war trotzdem selten drin. „Hier, am Maschsee haben wir Urlaub gemacht“, sagt sie, und es klingt nicht, als wäre sie je unzufrieden damit gewesen. Altersarmut ist weiblich
Die Geschichte von Erna Vogel ist ein Musterbeispiel dafür, dass Altersarmut auch jene treffen kann, die ihr Leben lang gearbeitet haben. Besonders Alleinstehende. Besonders Frauen. Es braucht nicht einmal einen besonderen Schicksalsschlag. Keine Krankheit, kein Unglück. „Ich habe viel gearbeitet, wenig verdient und wenig in die Rentenkasse eingezahlt“, sagt sie selbst.
Eigentlich wäre sie nach ihrer Scheidung gut versorgt gewesen. Ihr Mann habe eine gute Stellung gehabt, sagt sie. „Dann habe ich aber einen großen Fehler gemacht.“ Sie lernte einen anderen Mann kennen, und mit fast 60 Jahren heiratete sie noch einmal. Die Ehe hielt gerade ein Jahr, dann reichte er die Scheidung ein. „Meine Altersvorsorge war dahin“, sagt sie achselzuckend.
Heute bekommt sie eine Rente von 639,88 Euro. In der Senioreneinrichtung, in der sie sich sehr wohl fühlt, zahlt sie allein etwa 500 Euro Miete. „Darum bekomme ich noch 385 Euro Grundsicherung“, rechnet sie vor. Ärger mit dem Hörgerät
Mehr als 500 000 Senioren in Deutschland bekommen heute schon staatliche Hilfe, weil ihre Rente nicht reicht. Studien gehen davon aus, dass im Jahr 2036 etwa jeder fünfte 67-Jährige von Altersarmut bedroht ist. „Für Anschaffungen muss ich schon ganz schön sparen“, sagt Erna Vogel, „zum Beispiel für ein neues Paar Schuhe.“
Inzwischen wollen ihre Augen nicht mehr so gut, das Lesen ist schwierig geworden. Auch darum trifft sie die Sache mit dem Hörgerät besonders hart. „So ein Hörgerät ist schon ein kleines Kunstwerk“, sagt sie. Behutsam zieht sie ein solches Gerät aus der Tasche und wiegt es in den Händen.
Ihr altes Hörgerät ist vor einiger Zeit nach etlichen Jahren kaputt gegangen. Sie bekam ein neues, mit dem sie aber nicht gut zurecht kommt: „Ich habe doch Arthrose und kann es mit meinen Fingern nicht richtig einstellen“, sagt sie. „Irgendwie geht es weiter“
Im Geschäft gaben sie ihr darum ein anderes Modell zum Ausprobieren mit. „Das funktioniert super, damit kann ich gut hören“, sagt sie. „Leider soll es mehr als 3000 Euro kosten – so viel kann ich im Leben nicht aufbringen.“ Bei der Krankenkasse habe man ihr gesagt, dass sie ein neues Hörgerät erst wieder in fünf Jahren bezahlt bekäme. Dann wäre sie 99. „In fünf Jahren brauche ich kein Hörgerät mehr“, sagt sie.
Wie sehr Hören und gesellschaftliche Teilhabe miteinander verknüpft sind, bringt Erna Vogel auf sehr bodenständige Art auf den Punkt: „Mal ehrlich“, sagt sie, „wenn einer nicht gut gucken kann und nicht gut hören, ist das für seine ganze Umgebung doof. Man kann nicht mehr mitreden, hält irgendwann lieber den Mund – und dann wird man immer einsamer.“
Hören zu können, weiterhin mitzureden, weiter dabei zu sein – das ist der bescheidene Traum von Erna Vogel. Ihren Mut hat sie noch nicht verloren, schließlich hat sie schon Schlimmeres überstanden: „Irgendwie geht es immer weiter“, sagt sie. Aus ihrem Mund ist das keine Floskel, sondern die Lehre aus einem langen Leben.
Von Simon Benne