Wenn Bastian von einer Minute auf die andere beginnt durchdringend zu schreien, bleibt seine Mutter ruhig. Jessi S.* ist die Einzige, die ihren zweieinhalbjährigen Sohn zur Ruhe bringen kann, mit Engelsgeduld. Das schafft sonst niemand. Nicht einmal seine Oma, die er regelmäßig sieht. Denn Bastian kann nicht sagen, was ihm fehlt. Er spricht nicht, sondern schreit. Seine Mutter kann nur vermuten oder sich in ihr Kind hineinfühlen, was ihm fehlt. Ihr Sohn verhält sich autistisch, autoaggressiv, und er leidet unter Epilepsie. Doch seit einigen Wochen schöpft Jessi S. Hoffnung.
Ein ruhiges Kind sei Bastian nie gewesen, erzählt seine Mutter. Nach einer völlig normalen Schwangerschaft litt ihr Kind im ersten Lebensjahr stark unter Koliken und schrie entsprechend viel. Sie stillte und meinte, damit das Beste für ihr Kind zu tun. „Aber ich wusste, dass da irgendetwas nicht stimmte“, sagt die 30-Jährige. Nach einem Jahr ließ sie Bastian auf Laktoseintoleranz testen, ein Volltreffer. Ihr Kind reagierte allergisch auf Milchzucker, der in nahezu allen Milchprodukten steckt, auch in der Muttermilch. Sie stellte um auf eine laktosefreie Kost, doch Bastians Probleme blieben. Wenig später erlitt er den ersten epileptischen Anfall. Seine Mutter und die betreuenden Ärzte registrierten außerdem, dass sich das Kind nicht seinem Alter gemäß entwickelte. Es begann erst mit 18 Monaten zu laufen, seine ersten Worte – Mama und Kind – sprach Bastian mit 21 Monaten.
Es folgten weitere Krampfanfälle. Bastian reagierte mit Schreikrämpfen, sprach bald kein Wort mehr, hörte auf zu kauen. Jessi S. lief von Arzt zu Arzt, sie und ihr Kind wurden zu Dauerpatienten im Kinderkrankenhaus. Eine genaue Diagnose erhielt sie nicht – bis heute. Einige Ärzte erklärten, ihr Kind habe wohl „mehrere Baustellen“. Darauf wollte es die gelernte Altenpflegehelferin nicht beruhen lassen. Sie informierte sich in Foren im Internet, las Fachbücher und stieß schließlich über Selbsthilfegruppen auf einen Experten für Autismus, der eine Privatpraxis nahe Frankfurt betreibt. Die allein erziehende Mutter kratzte ihr Erspartes zusammen und fuhr im Oktober in dessen Praxis. „Das war das erste Mal, dass ich Eltern von autistischen Kinder im Wartezimmer sitzen sah, die lächelten und mir Mut machten“, erzählt Jessi S. strahlend und gleichzeitig erleichtert.
Der Mediziner untersuchte Bastian und riet als Erstes zu einer Umstellung der Ernährung. Außerdem verschrieb er Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel. Mit Erfolg. „Es ist für mich wie ein Wunder“, sagt Jessi S., die Hartz-IV-Leistungen und inzwischen auch Pflegegeld für Bastian bezieht, auch, weil sie ihn nicht eine Minute aus den Augen lassen kann. Er kann jederzeit einen Krampfanfall bekommen oder sich durch seine Autoaggression verletzen.
Seit sie ihr Kind frei von Milchprodukten, Gluten, Zucker und Hühnereiweiß ernährt, fängt es wieder an zu kauen und verschluckt sich nicht mehr. „Vorher musste ich alles pürieren“, sagt sie. Sie kocht Gemüse mit Fleisch oder Fisch, Bastian bekommt unter anderem Reiswaffeln, Mais-Hirse-Brot, Kokosmilch und Obst. Obgleich diese spezielle Kost sowie die verordneten Nahrungsergänzungsmittel teuer sind und ihr Budget erheblich übersteigen, bleibt Jessi S. konsequent dabei. Allein die Nahrungsergänzungsmittel summieren sich auf 300 Euro für sechs Wochen, die die Krankenkasse nicht übernimmt. Von den Arzt- und Behandlungskosten, die im kommenden Jahr wieder anstehen, einmal abgesehen. „Ich versuche, das irgendwie an anderer Stelle einzusparen.“
Voller Überzeugung setzt sie ihre ganze Hoffnung auf die neue Ernährung. Ihr Sohn habe zum ersten Mal seit seiner Geburt keinen Durchfall mehr. Er sei ruhiger und konzentrierter, greife nach seinen Spielsachen und schaue sich interessiert kleine Märchenfilme auf dem iPad an. „Und wenn er schreit, höre ich in diesem Geschrei Laute, als ob er mir etwas damit sagen will. Ich glaube, er entdeckt seine Sprache wieder.“ Sollte die Prognose des Facharztes für Autismus zutreffen, dann könnte durch diese spezielle Diät eine bis zu 90-prozentige Verbesserung der Sprachentwicklung, der Kontaktfähigkeit und eine Verringerung der Autoaggressivität erreicht werden. Das wäre ein Anfang.
Alle Ärzte, die Bastian behandeln, informiert sie regelmäßig über neue Therapien oder Medikamente der jeweils anderen Kollegen, neuerdings auch über Befunde des Facharztes für Autismus. „Damit alle Mediziner über alle Schritte und Entwicklungen meines Kindes Bescheid wissen“, erzählt Jessi S. „Mehr kann man nicht machen“, sagt sie. Als nächstes wird medizinisch abgeklärt, ob Bastian eine genetische Veranlagung zu Autismus hat. Im Februar beginnen die aufwendigen Untersuchungen im Kinderkrankenhaus Auf der Bult. „Um diese Untersuchung habe ich lange kämpfen müssen.“ Bastians Mutter ist davon überzeugt, dass ihr Kind autistisch ist. „Er hört anders, sieht anders, nimmt anders wahr und läuft unter anderem ausschließlich auf Zehenspitzen – wie viele andere autistische Kinder auch“, sagt Jessi S.
Von einer klaren Diagnose verspricht sich die 30-Jährige vor allem eine bessere Förderung. „Ich hoffe so sehr, dass wir jetzt weiterkommen, auch mit der neuen Ernährung.“ Für nächstes Jahr hat sie Bastian in einem heilpädagogischen Kindergarten angemeldet. Auch darauf setzt sie große Hoffnungen. „Vielleicht kann ich ja irgendwann einmal wieder arbeiten.“
*Namen geändert