Auf den ersten Blick wirkt alles normal und wohl geordnet. Die Fenster des kleinen Reihenhauses sind weihnachtlich geschmückt, auf der Fensterbank im Wohnzimmer steht ein Adventskranz. Die Kekse auf dem Esstisch hat Julia K.* vor ein paar Tagen mit den beiden jüngsten der vier Kinder gebacken. Sie sollen so wenig wie möglich von der finanziellen Schieflage merken, in der die Familie gerade steckt.
„Vorher sind wir mit Ach und Krach zurecht gekommen“, sagt Familienvater Gerd K. „Aber jetzt kneift es richtig.“ Mit vorher meint der 47-Jährige die Zeit vor seinem Bandscheibenvorfall in diesem Sommer. Schon im Januar hatte der Lagerarbeiter einer großen Spedition unter starken Rückenschmerzen gelitten, die zunächst als Hexenschuss behandelt wurden. Nach zwei Wochen begann er wieder zu arbeiten. Im Juli folgten die nächsten Vorfälle - in einem Halswirbel sowie in zwei Lendenwirbeln. Dieses Mal lautete die Diagnose Bandscheibenvorfall. Ärzte an der Medizinischen Hochschule Hannover versteiften einen der betroffenen Wirbel, seitdem trägt Gerd K. ein Stützkorsett. Für Ende Dezember steht eine erneute Untersuchung an, dann soll entschieden werden, wie es weitergeht.
Im besten Fall wird Gerd K. eine Rehabilitationsmaßnahme antreten. Für ihn jedoch ist jetzt schon klar, dass er seinen Job im Lager nicht mehr wird ausüben können. Mit seinem Chef ist bereits abgesprochen, dass ihm – als Ungelerntem – nach der Reha nur der sogenannte Wareneingang bleibt, als Vorarbeit für die Disposition des nächsten Tages. „Das bedeutet allerdings wieder Nachtschicht“, sagt Gerd K., der seit September Krankengeld bezieht. „Seitdem hängen wir völlig in der Luft.“
Nachtschicht hat der 47-Jährige viele Jahre gearbeitet, nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Bäcker 1990. Wegen einer Mehlallergie musste Gerd K. damals seinen erlernten Beruf aufgeben. Zwar arbeitete er noch sechs Monate in einer Großbäckerei, in der Hoffnung, dann weniger mit dem Allergie auslösenden Mehl in Kontakt zu kommen. Doch vergeblich, die Ekzeme blieben. „Ich wäre gern Bäcker geblieben“, sagt Gerd K. rückblickend. In den folgenden Jahren nahm er viele Jobs an, darunter als Maschinenführer, als Kommissionierer, im Tief- und im Landschaftsbau. Seit 2001 ist er als Lagerarbeiter fest beschäftigt.
1994 lernte er seine Frau kennen, eine gelernte Bürokauffrau. 1998 kam das erste Kind, Anna, zur Welt, 2001 das zweite. „Wir wollten immer vier Kinder“, erzählt die 42-jährige Julia K. „Und wir waren immer stolz darauf, es allein ohne Hartz-IV-Leistungen zu schaffen, obwohl wir mit unserem Einkommen immer nur knapp darüber lagen.“ Die beiden Jüngsten, Sam und Rebecca, wurden 2006 und 2008 geboren. Unterstützung erhielt die Familie durch Gerd K.s Eltern, die im selben Ort leben. Sie hüteten die Kinder, wenn es nötig war, halfen beim Kauf von Garderobe. Heute sind beide selbst krank und brauchen Hilfe.
Julia K., die als Zeitungsausträgerin jahrelang zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen hatte, wollte gleich nach der Elternzeit des vierten Kindes wieder anfangen zu arbeiten. 2010 dann der Schock: Sie erkrankte schwer an Krebs, hat heute einen Schwerbehinderungsgrad von 50 Prozent. Trotz allem begann sie nach erfolgreicher Operation und Chemotherapie als Fahrerin, Küchenhilfe und Mädchen für alles in einem Altenpflegeheim zu arbeiten. Doch die Arbeit ging über ihre körperlichen Kräfte. Auch eine Mutter-Kind-Kur brachte nicht den erhofften Erfolg, bei ihrer Rückkehr war sie kranker und schwächer als zum Beginn der Maßnahme. Inzwischen ist sie arbeitsunfähig.
Der dauerhaft niedrige Verdienst von Gerd K. und die Krankheit seiner Ehefrau sind nicht ohne Folgen geblieben. „Wir sind halt immer gerade so eben über die Runden gekommen“, sagt die 42-jährige Julia K. Mehr sei einfach nicht drin gewesen, sagt sie fast entschuldigend.
Das bedeutet, dass das Etagenbett und die beiden Matratzen im Zimmer der beiden Jüngsten völlig verschlissen sind. Das Bett des 16-jährigen Thorsten, der noch zur Schule geht, müsste dringend ersetzt werden, wie auch die Kleiderschränke der drei Kinder. Nur die kleine Sofaecke der Ältesten, die ebenfalls noch zu Hause wohnt, weil sie eine schulische Ausbildung absolviert, ist fast neu. „Da haben wir letztes Jahr alle zusammengelegt, damit sie mal etwas Schönes bekommt, schon als Aussteuer“, sagt ihre Mutter.
Aber auch die Schlafcouch der Eltern im Wohnzimmer des gerade einmal 84 Quadratmeter großen Hauses, in dem die Familie zur Miete wohnt, ist völlig durchgelegen. Dringend ersetzt werden müssten außerdem der defekte Wäschetrockner und die Waschmaschine. „Wir sparen schon, wo wir nur können“, sagt Julia K. Garderobe zum Beispiel leistet sich die Familie nur noch gebraucht aus dem Second-Hand-Laden.
Gerd K. muss jetzt erst einmal die nächste Untersuchung abwarten, damit er weiß, wie es weitergeht. Sollte sich seine Erkrankung allerdings noch länger hinziehen, müsste die Familie schließlich doch Hartz-IV-Leistungen beantragen.
* alle Namen geändert