Sie gab ihren Job auf, um Mutter, Vater und Ehemann zu pflegen. Jetzt sind alle drei binnen kurzer Zeit verstorben – und Hilde P. ist am Ende ihrer Kräfte. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.
Auf den kleinen Tisch hat sie einen Bilderrahmen gestellt. Darin steht ein Spruch. Ein ausgeschnittenes Zitat des Schauspielers George Clooney: „Wenn das Leben des anderen plötzlich viel wichtiger ist als dein eigenes, ist es Liebe!“ So gesehen hat Hilde P. in ihrem Leben viel geliebt. So viel, dass sie selbst dabei am Ende auf der Strecke blieb.
Die 57-Jährige weint viel, wenn sie davon erzählt. Nach der Schule wurde sie erst Friseurin. Eine Ehe ging in die Brüche, danach sattelte sie beruflich um und wurde Altenpflegehelferin. Es gefiel ihr, für andere da zu sein. „Du spielst wieder Mutter Teresa“, sagten Bekannte. Doch für sie war der Job auch praktisch: „Die Kinder waren ja noch klein“, sagt sie. „Da habe ich mich tagsüber um sie gekümmert und nachts arbeiten können.“ Für sie eine perfekte Lösung.
Hilde P.s kleine Wohnung ist einfach, aber ausgesprochen liebevoll eingerichtet. Jede Pflanze ist an ihrem Platz, jedes Kissen hat seine akkurate Knickkante, auf dem Tisch brennen zwei Kerzen. Die Wohnung einer Frau, die es anderen gerne schön macht.
Als ihre Mutter krank wurde, zögerte sie nicht lange. Hilde P. gab ihren Job auf, um sie pflegen zu können. „In manchen Phasen musste ich fast 24 Stunden am Tag für sie da sein“, sagt sie. Vor sechs Jahren wurde dann auch noch ihr zweiter Mann krank. Bislang hatten sie noch in getrennten Wohnungen gelebt. Jetzt zog er zu ihr. Ihre Möbel schaffte sie in den Keller, um im Wohnzimmer Platz für sein Pflegebett zu haben. „Sonst hätte er in ein Heim gemusst – das hätte ich nicht übers Herz gebracht“, sagt sie.
Im August vor einem Jahr starb ihre Mutter. Ihr Vater konnte danach nicht länger alleine leben. Also holte sie ihn in die kleine Wohnung, in der sie bereits ihren Mann betreute. Für das zweite Pflegebett räumte sie ihr eigenes Schlafzimmer. Sie selbst schlief nun in einem schmalen Bett. Doch viel Schlaf bekam sie oft nicht. „Beide Männer waren nachtaktiv“, sagt sie. Ihr Mann hatte nachts häufig Anfälle, beide Männer brauchten Toilettenstühle. „Ich musste oft aufwischen“, sagt Hilde P.
Im vergangenen März starb dann ihr Vater. Und dann passierte die Sache mit ihrem Mann. Sein Bild steht vor ihr auf dem Tisch. Ein ansehnlicher Mann. Sie zieht ein zweites Foto aus der Tasche, ein später aufgenommenes, das ihn mit aufgedunsenem Gesicht zeigt. „Zeitweise brauchte er 32 Tabletten am Tag“, sagt sie. „Im vergangenen Jahr hatten wir jeden Monat den Rettungswagen hier.“ Und dennoch schien es ihm im Sommer wieder besser zu gehen. Deshalb traf es sie völlig überraschend, als er ins Krankenhaus kam und dort vor drei Monaten starb.
Binnen eines Jahres hat Hilde P. die drei Menschen verloren, für die sie sich über Jahre aufgeopfert hat. „Manchmal liege ich im Bett und frage mich, über wen ich jetzt eigentlich weine“, sagt sie. Emotional ist sie am Ende ihrer Kräfte – und finanziell auch. „Sie hat sich selbst nie etwas gegönnt, war immer für ihre Angehörigen da“, sagt die Sozialarbeiterin, die sie betreut. „Ausgerechnet deshalb steht sie heute selbst schlecht da.“
Hilde P. bekommt Arbeitslosengeld II und eine kleine Witwenrente, sie lebt von rund 760 Euro im Monat. Die Rechnungen häufen sich bei ihr. „Hätte ich immer weiter gearbeitet, hätte ich sicher mehr“, sagt sie. Doch sie wollte ja ihre Eltern und ihren Mann nicht im Stich lassen, als diese Hilfe brauchten.
Gerne würde sie jetzt wieder arbeiten gehen. Doch sie hat sich auch gesundheitlich aufgerieben. Im Gespräch zwinkern ihre Augen permanent unkontrolliert. Ein Nervenleiden. Als ihre Angehörigen noch lebten, hat sie eine erste Operation machen lassen. „Nur ambulant, ich musste ja zuhause weitermachen“, sagt sie. Geholfen hat es nicht. „Ich kann nicht gut sehen und schaukele beim Gehen“, sagt Hilde P. „Es gibt auch gute Tage, doch oft traue ich micht nicht alleine zum Einkaufen auf die Straße.“
In ihrer Wohnung ist sie jetzt wieder ganz allein. Sie fühlt sich, als wäre sie in ein Loch gefallen, aus dem sich nicht wieder herauskommt, sagt sie. „Früher war ich immer im Gange – jetzt kriege ich die Kurve nicht.“ Ein Tapetenwechsel wäre gut. „Ich war ja seit zwölf Jahren nicht verreist“, sagt sie. Weil sie pflegen musste. Und weil jetzt das Geld fehlt.
„Ein kleiner Urlaub wäre mein Traum“, sagt Hilde P. Mit ihrer Schwester, die sich heute um sie kümmert, würde sie gerne einmal wegfahren. „In die Sonne, irgendwohin, wo ich noch nie war.“ Das wäre wie ein neuer Anfang.
Von Simon Benne