Es gibt Ereignisse im Leben, die einen Menschen völlig aus der Bahn werfen können. Bei Laura Prelle* war es eine kurze, schwere Erkrankung, aber seitdem ist für sie und ihre Familie nichts mehr wie vorher. Seit einem fünfwöchigen Krankenhausaufenthalt im Juni dieses Jahres hat sie immer häufiger das Gefühl, die große Verantwortung, die sie trägt, nicht mehr schultern zu können. Es einfach nicht mehr zu schaffen.
Bis dahin hatte sie ihr nicht gerade einfaches Leben im Griff. Sie versorgte ihre zwei Kinder, ihren pflegebedürftigen Vater und arbeitete von morgens bis spät in den Abend hinein, um sich und ihre Familie zu ernähren. Ihr Mann war bereits länger arbeitslos.
Schon im März, erinnert sich die 34-Jährige, habe ihre Energie merklich nachgelassen. Sie vermutete Stress, im Juni stellten sich jedoch starke Schmerzen im Gesicht ein – gleichzeitige Ohren- und Zahnschmerzen. Ihr Hausarzt wies sie sofort in ein Krankenhaus ein. Zunächst vermuteten die Ärzte eine Leukämie. „Das war die Hölle“, erzählt Laura Prelle. „Eine Woche lang habe ich Todesängste ausgestanden.“ Erst nach zahlreichen weiteren Untersuchungen wurde bei ihr eine Hirnhautentzündung diagnostiziert, eine, die nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen war.
Noch heute leidet sie unter den Folgen ihrer Erkrankung. Sie hat Konzentrationsstörungen und fühlt sich kraftlos; ihre Vollzeitstelle in einer Reinigungsfirma musste sie auf 25 Wochenstunden reduzieren. Um über die Runden zu kommen, erhält sie ergänzende Leistungen vom Jobcenter. Zum Jahresende wird sie ihren Arbeitsplatz ganz verlieren, weil das Unternehmen schließt. Bisher hat sie erst einen 450-Euro-Job in Aussicht. „All das macht mir Angst“, sagt die zierliche Frau. „Bis zu meiner Erkrankung war ich eine richtige Powerfrau.“
Jetzt hat sie außerdem noch einen Knoten in der linken Brust erspürt. Weil er wächst, hat sie vor der Gewebeuntersuchung ein mulmiges Gefühl. Aber als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, hat sie vor wenigen Tagen auch noch die Kündigung für ihr kleines Reihenhaus erhalten. Ihr Vermieter meldet Eigenbedarf an. „Das ist das Schlimmste, was mir in der jetzigen Situation passieren konnte“, sagt sie fassungslos.
Vor ihrer Erkrankung stand sie jeden Morgen um 6 Uhr auf, um ihren Vater zu duschen und zu versorgen. Der 73-jährige ist schwer an Parkinson erkrankt, er lebt seit zwei Jahren mit im Haus von Laura Prelle. Möglich war dies nur durch ein kleines Zimmer im Erdgeschoss mit Duschbad nebenan, das auch mit einem Rollator befahren werden kann. Anschließend stand das Frühstück mit ihren acht und 13 Jahre alten Kindern an. Von 8.15 bis 13 Uhr arbeitete sie wochentags als Reinigungskraft in verschiedenen Privathaushalten, abends von 17 bis 21 Uhr ging das Putzen weiter – in Kindergärten. Weil Laura Prelle weder Führerschein noch Auto besitzt, hat sie ihre Arbeit in der Umlandgemeinde von Hannover so organisiert, dass sie alles per Fahrrad erreichen kann. Jetzt hofft sie, dass das in Zukunft auch möglich sein wird. „Sonst bricht die ganze Konstruktion von Arbeit und der Versorgung meiner Familie zusammen“, sagt sie. „An mir hängt doch alles.“
Die Nachmittage sind für ihre Kinder reserviert. Sie kocht Mittagessen, dann muss sie vor allem die Schularbeiten der achtjährigen Jule beaufsichtigen, ihr älterer Sohn ist gut in der Schule, um ihn muss sie sich nicht sorgen. Ihre Tochter hat ADHS, die Abkürzung steht für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. „In der Schule kommt sie gut mit, aber ich kann sie nicht allein lassen, weil sie nur Blödsinn macht“, sagt ihre Mutter. Völlig grundlos stellt das Kind beispielsweise den Herd an oder telefoniert mit wildfremden Menschen. „Sie denkt sich nichts dabei“, sagt ihre Mutter. Wegen der fehlenden Beaufsichtigung sei auch die Unterbringung in einem Hort nach der Schule unmöglich. Genauso wie das Arbeiten am Nachmittag.
Noch bis vor ein paar Monaten sei ihr Mann nachmittags bei den Kindern gewesen. Inzwischen hat sich Laura Prelle von ihm getrennt, die Scheidung läuft. Als Konsequenz auf die schwere Erkrankung hat die 34-Jährige einiges in ihrem Leben umgekrempelt. Sie lebt gesünder und bewusster als vorher, hat mit dem Rauchen aufgehört, trinkt Kräutertees statt Kaffee, zu den Mahlzeiten gibt es viel Gemüse, Obst, Salat und Vollkornprodukte. „Man kann sich auch mit sehr wenig Geld gesund ernähren“, hat sie festgestellt. „Die Kinder ziehen zum Glück mit.“
Die Kündigung ihres Arbeitsplatzes war für die junge Frau schon schwierig. „Aber ich kann arbeiten, ich finde sicher wieder einen Job“, sagt sie selbstbewusst. Die Kündigung des Reihenhauses wirft sie nun aber völlig aus der Bahn. „Mein Vater hat panische Angst, dass er in ein Pflegeheim ziehen muss.“ Der ehemals selbstständige Handwerker bezieht nur eine winzige Rente, zahlt seiner Tochter 330 Euro Miete.
Seit der krankheitsbedingten Reduzierung ihrer Arbeitszeit war die Miete für das Reihenhaus ohnehin zu hoch geworden. Die Suche nach einer günstigeren Alternative verlief allerdings ergebnislos. Laura Prelle sucht eine barrierefreie Wohnung oder ein kleines Haus, damit ihr Vater weiter von ihr versorgt werden kann. „Ich bin völlig am Verzweifeln“, sagt sie. Ihre ganze
Hoffnung liegt jetzt auf einer bereits bewilligten Mutter-Kind-Kur im nächsten Frühjahr. „Ich hoffe, dass ich danach wieder richtig durchstarten kann.“
Weihnachtswünsche für sich hat sie keine. „Aber ich würde meinen Kindern gern etwas Winterkleidung schenken“, sagt sie leise.
*Name geändert