40-Jährige ist zu einem Pflegefall geworden, weil ihre Krankenkasse die Kosten für die Korrektur einer Zahnfehlstellung nicht bezahlt.
Helena Z.* hat ein klares Ziel vor Augen: Als Schulbegleiterin möchte sie möglichst bald schon Kindern mit Handicap zur Seite stehen. Dass sie das kann, hat sie während ihrer Ausbildung zur Sozialassistentin bewiesen; die Mutter eines Kindes hat sich für ihre einfühlsame Art der Begleitung sogar schriftlich bei ihr bedankt. Doch wegen einer Zahnfehlstellung mit dramatischen Folgen musste Z. ihre Ausbildung vorerst abbrechen, ob und wann sie sie fortsetzen kann, ist ungewiss. Seit mehr als einem Jahr schon ist sie pflegebedürftig und hat die Pflegestufe I, sie leidet unter unerträglichen Schmerzen, Tinnitus und benötigt Hilfestellung bei der Körperpflege, im Haushalt, beim Einkaufen und sogar beim Essen. Helfen könnte ihr eine kieferorthopädische Behandlung, doch für diese Kosten kommt ihre Krankenkasse nicht auf.
Laut Sozialgesetzbuch haben gesetzlich Versicherte nach ihrem 18. Geburtstag keinen Anspruch mehr auf eine kieferorthopädische Therapie – es sei denn, es liegt eine schwere Kieferanomalie vor. Das ist bei ihr zwar nicht der Fall, ihre Beschwerden aber sind so massiv, als läge eine solche vor. Ein Gesetz mit fatalen Folgen für Menschen wie Helena Z. Die Einzelhandelskauffrau mit deutschen Wurzeln kam vor zehn Jahren aus Polen nach Hannover. Sie arbeitete zunächst als Haushaltshelferin, betreute Senioren und Kinder, ehe sie 2011 eine Ausbildung zur Sozialassistentin begann. Z. absolvierte voller Begeisterung das erste Ausbildungsjahr, wegen unerklärlicher Schmerzen musste sie die Ausbildung aber abbrechen. Helena Z. konnte die erforderlichen Praktika und vor allem die damit verbundene Arbeit mit Kindern nicht antreten.
Es war der Beginn eines jahrelangen Martyriums unter anderem mit Schwindel, Schmerzen am ganzen Körper, vor allem aber im Kopf, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Nach ungezählten Arztbesuchen und der vierten MRT-Untersuchung stellte ein Arzt eine auffällige Zahnfehlstellung fest. Solch eine Asymmetrie im Bereich des Kiefers kann die gesamte Statik des Körpers gewissermaßen aus den Angeln heben. Die Folge davon können unter anderem Fehlhaltungen oder chronische Schmerzen sein. Woher diese Fehlstellung stammt, darüber kann Z. nur spekulieren. Im Kindesalter wurde bei ihr eine Korrektur der Schneidezähne vorgenommen, wobei auch einige Zähne gezogen wurden. „Optisch sind meine Zähne völlig in Ordnung“, sagt sie.
Helena Z. wandte sich an ihre Krankenkasse und beantragte eine kieferorthopädische Behandlung. Die Kasse lehnte mit Verweis auf die Rechtslage ab, die Patientin sollte es stattdessen mit Massagen und Krankengymnastik, Psychotherapie sowie einer Kunststoffschiene kurieren, die sie rund um die Uhr im Mund tragen musste. Im August 2013 verschlechterte sich ihr Zustand weiter. Da sprang der sogenannte Diskus aus ihrem Kiefergelenk, eine Knorpelscheibe, die mit dem Meniskus im Knie vergleichbar ist. „Das war ein unheimlicher Knall im Kopf“, erinnert sich Z. Sie fühlte sich physisch und psychisch am Ende. Gegen die immer stärkeren Schmerzen, die sich ausgehend von der Zahnfehlstellung nun über den ganzen Körper ausgebreitet hatten, halfen auch keine Medikamente mehr. Z. befindet sich seitdem in Schmerztherapie. Im Sommer 2014 bewilligte ihr die Kasse Pflegestufe 1 und sogar einen Rollstuhl. Doch den kann sie kaum nutzen, weil die Schmerzen bis in ihre Arme strahlen und sie ihn deshalb nicht bewegen kann. „Das ist alles rausgeworfenes Geld“, sagt die 40-Jährige, die liebend gern ihre Ausbildung fortsetzen und arbeiten würde. „Stattdessen werden unsinnige Therapien und womöglich Pflege und Arbeitsunfähigkeit auf Dauer finanziert, anstatt endlich die Zahnfehlstellung zu korrigieren.“
Eine Klage vor dem Sozialgericht Hannover gegen ihre Krankenkasse wurde ebenso abgewiesen wie ein anschließendes Widerspruchsverfahren vor dem Landessozialgericht in Celle. Zwar zweifelten beide Gerichte nicht an der Notwendigkeit der Zahnbehandlung, der Krankenkasse aber konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden – sie handelt nach geltendem Recht. Ein Brief an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe blieb unbeantwortet.
Inzwischen hat Helena Z. eine Facharztpraxis gefunden, einen Zahnarzt und einen Kieferorthopäden, die auf derartige Fälle spezialisiert sind. Z. hat eine speziell angepasste Zahnschiene erhalten, damit ihre Beschwerden sich zumindest nicht weiter verschlimmern. Den Ärzten zufolge ist es jetzt aber medizinisch dringend geboten, die kieferorthopädische Behandlung fortzusetzen, weil die Schiene höchstens sechs Monate getragen werden darf. Jetzt müsste die Anpassung der Zahnklammer beginnen, um die Fehlstellung ihrer Zähne endgültig zu beheben. Etwa 18 Monate würde das dauern, danach wäre sie, so ihre Hoffnung, endlich beschwerdefrei. Aus eigner Kraft aber wird Helena Z. nicht in der Lage sein, diese Behandlung zu bezahlen.
*Name geändert
Von Veronika Thomas