Eine 94-Jährige lebt in großer Bescheidenheit. Doch nach einem Krankenhausaufenthalt wegen eines Sturzes fallen ungeplante Kosten an – und die Rente reicht nicht mehr.
Helga Körbitz* jammert nicht. „Ich lasse mich nicht hängen“, sagt die 94-Jährige bestimmt. „Ich bin so etwas wie ein Stehaufmännchen.“ Doch seit einem schweren Sturz vor einem Jahr, bei dem sie sich einen Trümmerbruch des rechten Handgelenks zugezogen hat, schafft sie kaum noch ihre Hausarbeit. Bei ganz bestimmten Bewegungen schmerzt ihr Handgelenk so stark, dass sie sich Arbeiten wie das Wischen und Saugen der Fußböden nicht mehr zutraut. Körbitz bräuchte dringend eine Haushaltshilfe, doch ihr größter Wunsch ist ein neuer Wintermantel.
Die gebürtige Chemnitzerin gehört zu einer Generation, die während des Zweiten Weltkriegs und noch Jahre danach vieles erleiden und entbehren musste. 1941, genau an ihrem 20. Geburtstag, verunglückte ihr Verlobter tödlich. Gemeinsam hatten sie bereits einen zwei Jahre alten Sohn und standen kurz vor der Hochzeit. Zwei Jahre später lernte sie einen neuen Mann kennen, noch im selben Jahr wurde geheiratet. Doch das Glück währte nur kurz: Am 12. Januar 1945 starb ihr Ehemann an den Folgen einer Kriegsverletzung. Wenige Wochen später wurde die gelernte Stenotypistin zweimal hintereinander ausgebombt, verlor ihre Wohnung und ihre gesamte Habe.
Helga Körbitz flüchtete ins Erzgebirge, wo sie zunächst als Köchin und Näherin für die russischen Besatzungskräfte und später als Aushilfslehrerin arbeitete. Um sich und ihren Sohn durchzubringen, fuhr sie auch zum „Hamstern“ über Land, um unter anderem handgestrickte Socken gegen Lebensmittel einzutauschen. Eine dieser Touren führte 1946 schließlich nach Hannover, wo sie im Café Vaterland in Bahnhofsnähe eine Stellenanzeige entdeckte. Antreten durfte sie die Stelle als Stenotypistin aber vorerst nicht – weil sie keine Wohnung hatte, sondern nur Adressen von Bunkerhotels vorweisen konnte.
1947 wurde Körbitz schließlich eine Wohnung zugewiesen, ab 1951 arbeitete sie nicht mehr nur als Stenotypistin, sondern bis zu ihrem Rentenbeginn 1980 als Sekretärin in einer großen Anwaltskanzlei. „Ich habe immer gearbeitet, so lange ich denken kann. 43 Jahre auf Steuerkarte“, erzählt die gepflegte alte Dame, die man, wüsste man es nicht besser, eher auf 80, nicht aber auf 94 Jahre schätzen würde.
Geblieben sind ihr monatlich 1040 Euro Rente.
2002 zog Körbitz in eine altengerechte Wohnung mit Aufzug, die im Lauf der Jahre aber immer teurer geworden ist, seitdem eine Immobilienfirma die einstige Altenwohnanlage aufgekauft hat. Für ihre 54 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung zahlt sie fast 600 Euro Miete, hinzu kommen 32 Euro für Strom und 40 Euro für den Anschluss an einen Hausnotruf. Außerdem stottert sie einem Zahnarzt monatlich 50 Euro für einen neuen Zahnersatz ab sowie 35 Euro für einen Kleinkredit bei ihrer Bank. „Mir bleiben nach Abzug aller Kosten einschließlich der Zuzahlung für Medikamente etwa 200 Euro im Monat zum Leben. Das reicht normalerweise, wenn keine unvorhergesehenen Ausgaben dazukommen“, sagt die sehr bescheiden lebende Seniorin. Auch für dringende Neuanschaffungen reichen diese 200 Euro nicht. Außer ihrem 76-jährigen Sohn, der weiter entfernt lebt, hat sie keine Angehörigen mehr.
Als Helga Körbitz im vergangenen Monat 140 Euro an Krankenhauseigenleistungen bezahlen musste, ihr Anteil für einen 13-tägigen Klinikaufenthalt plus Transport, rutschte ihr Konto ins Minus, wichtige Überweisungen wurden nicht ausgeführt.
Der Grund für den unvorhergesehenen Klinikaufenthalt: Die 94-Jährige war beim Frisör plötzlich ohnmächtig geworden, und als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Bett der Henriettenstiftung. „Gefunden haben sie bei mir aber nichts“, erzählt die alte Dame. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Schwindelanfälle zu schaffen machten. Im März 2013 kippte sie in einem Drogeriemarkt um, im Dezember desselben Jahres in einer Einkaufspassage. Im Oktober 2014 stürzte sie im Bad und zog sich den Trümmerbruch ihres rechten Handgelenks zu, unter dessen Folgen sie immer noch leidet. Bei einem Sturz drei Wochen später verstauchte sie sich ihre linke Hand. „Da hatte ich beide Hände bandagiert“, erzählt sie.
Inzwischen traut sich Körbitz nur noch mit einem Rollator nach draußen, zum Einkaufen nimmt sie eine Nachbarin als Begleitung mit. Um zu ihrer wöchentlichen Canastagruppe in die Südstadt zu gelangen, die sie seit mehr als 30 Jahren ehrenamtlich leitet, nutzt sie den Begleitservice der Üstra. Ein Antrag auf eine Pflegestufe wurde jedoch gerade abgelehnt. „Dafür bin ich offenbar noch zu fit“, meint die 94-Jährige. Jetzt bemüht sich eine Sozialarbeiterin des Kommunalen Seniorenservice erst einmal um die dringend erforderliche Haushaltshilfe. Was sie aber mindestens genauso nötig hat, ist ein neuer Wintermantel. „So etwas Leichtes, Wattiertes und trotzdem Warmes“, wie sie sagt, soll es sein. Denn ihr alter Lodenmantel ist 40 Jahre alt und „furchtbar schwer“. Und ein paar neue bequeme Schuhe bräuchte sie auch noch.
* Name geändert
Von Veronika Thomas