Es gibt da ein paar Dinge, die er aus seinem früheren Leben hinübergerettet hat in sein heutiges. Sein gestalterisches Talent gehört dazu. Sein Blick fürs Detail und die handwerkliche Präzision. „Ich möchte eben immer was zu muckeln haben“, sagt Fritz N. fast verlegen. Er zeigt auf die Modellbauten, die er erst vor kurzem angefertigt hat: Häuser im Maßstab 1:12 zum Aufklappen, aus Pappe und Sperrholz. Viktorianische Salons und ein Tattoo-Studio hat er gebaut. Dazu hat er winzige Kaffeemaschinen aus alten Brillenetuis geformt, Leuchtreklamen kreiert und sogar winzige Zigarettenstummel aus Papier gerollt. Es sind wahre Kunstwerke. Der 48-Jährige erschafft kleine Welten, in denen er alles im Griff hat.
Anders als in seinem Alltag. Dieser ist davon geprägt, dass es auch viele Dinge gibt, die er in seinem früheren Leben zurücklassen musste. Die Geschichte von Fritz N. erzählt davon, dass niemand davor gefeit ist, in Armut zu geraten. Auch Erfolgsmenschen nicht.
Nach der Realschule hatte Fritz N., der im Umland von Hannover lebt, eine Ausbildung zum Schildermaler gemacht. Später machte er sich als Werbetechniker selbstständig. Er war gut im Geschäft. „Ich hatte bundesweit Großkunden“, sagt er, „ich arbeitete sogar an Wochenenden und Weihnachten.“ Für die Üstra, für Taxi-Unternehmen und für die Polizei beklebte er Fahrzeuge mit Schriftfolien. Als die Messe ihre Halle 10 mit riesigen pinken Ornamenten verzieren ließ, war er dabei. Seinem eigenen Wagen verpasste er ein markantes Schwarzweißmuster – mit rund 90 000 winzigen Karos. Dieser Mini war Statussybol und Visitenkarte zugleich.
Und dann brach Fritz N. vor fünf Jahren bei einer Messe zusammen.
„Ich war schon Monate zuvor immer müde gewesen“, sagt er im Rückblick. Mit seiner Blutgerinnung stimmte etwas nicht, nur ein sofortiger Aderlass rettete ihm 2010 das Leben. Die Ärzte stellten fest, dass er an einer seltenen Blutkrebserkrankung litt: Polycythemia vera. „Schon als Lehrling hatte ich ständig mit Chemikalien gearbeitet“, sagt er. „Wir wuschen uns mit Benzol die Hände und reinigten damit die Siebe – häufig gab es bei der Arbeit keine Lüftungsanlagen oder Handschuhe.“ Doch dass es einen direkten Zusammenhang mit seiner Krankheit gibt, lässt sich nicht beweisen.
Heute ist Fritz N. erwerbsunfähig. „Ich muss bis zu zwölf Pillen am Tag nehmen“, sagt er. Täglich bekommt er Chemo-Tabletten, und das dürfte sein Leben lang so bleiben. Fritz N. wirkt auf den ersten Blick gesund, man braucht nicht viel Fantasie, um ihn sich als zupackenden Macher vorzustellen – doch der Eindruck täuscht. Die Krankheit und die Medikamente haben ihm seine Leistungsfähigkeit genommen. Er leidet an einem sogenannten Fatigue-Syndrom: Müdigkeit grundiert sein Leben, er ist antriebslos und erschöpft – an manchen Tagen mehr, an anderen weniger: „Manchmal brauche ich zwei Tage, bis ich mir endlich die schmutzige Brille putze“, sagt er. „Und manchmal sitze ich rum und sehe zu, wie der Kaffee kalt wird – und ärgere mich noch, dass ich ihn nicht trinke.“
Alle Versuche, ins Berufsleben zurückzufinden, scheiterten. Einen Rentenanspruch hat er nicht: Dafür hatte er einen Monat zu wenig eingezahlt. Fritz N. kann von teuren Therapien erzählen, davon, wie soziale Kontakte mit der Zeit wegbrachen und zwei Beziehungen in die Brüche gingen. Krankheit, Armut und Isolation können einander wechselseitig befördern und eine Spirale bilden, die unweigerlich abwärts führt. Heute lebt Fritz N. von ein paar Hundert Euro Grundsicherung.
Noch immer ist er ein Mann, der sich gewählt ausdrücken kann und auf sein Äußeres achtet. Seine Situation analysiert er präzise und ohne Bitterkeit. Doch verändern kann er sie nicht, dazu fehlt ihm die Kraft: „Ich habe einfach keine Energie“, sagt er. Ein paar Träume hat er sich dennoch bewahrt, und einige davon ließen sich sogar realisieren: Werkzeug bräuchte er, für seine Modellbauten, spezielle Sägen. Vielleicht könnte er ja seine kunstvollen Mini-Möbel einmal im Internet anbieten. Vielleicht gäbe es ja Interessenten dafür. Vielleicht würde ihm das auch ein wenig Anerkennung bringen.
„Ein altes Moped hätte ich auch gerne wieder“, sagt Fritz N., der in seinem Leben mehr als 50 Autos und Zweiräder besessen hat. Das letzte, eine Vespa, hat er vor vier Jahren aufgegeben. Früher hat er gerne an Oldtimern gebastelt: „Das ginge immer noch, wenn ich keinen Zeitdruck habe und mir die Kräfte einteilen kann“, sagt er. Mit einem Moped, so hofft er, könnte er wieder ein paar Kontakte zu anderen Bikern aufbauen: „Unter Schraubern kommt man doch schnell ins Gespräch.“ Ein paar Hundert Euro könnten Fritz N. schon reichen, um sich seinen Traum zu erfüllen. Und um sich einen kleinen Teil seines früheren Lebens zurückzuerobern.
Von Simon Benne